top of page

Leseprobe zu "Zerrissen - vom Kummer zerfressen"

Vorwort


Nicht alles, was im Leben geschieht, hat einen Sinn. Nicht alles, was wir machen, muss etwas Großartiges werden.

Doch sind es manchmal nur die kleinen Dinge, die wirklich zählen.

Die Hand, die dich hält, wenn du traurig bist.

Das Lächeln, was dir Trost spenden soll.

Der Blick, der dir sagen will: »ich verstehe dich.«


Leider sind diese Dinge manchmal sehr selten zu finden, sie verstecken sich hinter der Angst, der Unsicherheit.


Nicht immer wird gelächelt, weil man glücklich ist, sondern damit niemand den wahren Schmerz entdeckt. Niemand den Schein durchbricht.

Niemand die wahren Gefühle erkennt.


Manch eine Veränderung schleicht sich nach und nach an, bis sie einfach dazu gehört.

Manch eine Last zeichnet sich nur zaghaft ab. Wer würde schon ahnen, was ein junges Mädchen oder ein kleiner Junge auf dem Herzen hat?

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Alles hängt an einem Faden, alles kann zerreißen.

Die Vergangenheit hinterlässt ein Loch, die Gegenwart den Schmerz, die Zukunft die Erkenntnis.


Die Liebe lässt einen alles Vergessen, doch auch unsere größten Ängste zum Vorschein kommen.

Die Angst, einem geliebten Menschen nie die Wahrheit sagen zu können.

Die Angst, zu spät zu sein.

Die Angst, seine Gefühle zuzulassen.


Manchmal erkennen wir erst, was wir haben, wenn es zu spät ist. Wenn es für immer verschwindet und nie mehr auftaucht. Wenn der einzige Kuss auch der Letzte ist.


»Die ganze Welt ist eine Bühne

Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.

Sie treten auf und gehen wieder ab,

Sein Leben lang spielt jeder manche Rollen.«


William Shakespeare

»Wie es euch gefällt«

Prolog

Kate und Nick


Mitten in der Nacht hörte sie es. Zunächst drang es nur dumpf zu ihr durch, doch dann erkannte sie. Schnell schlug sie ihre Decke zurück und rannte barfuß ins Bad.

Sie entdeckte ihren Sohn, der mit dem Kopf über der Toilette hing. Der immer wieder würgte und kaum mehr etwas in sich haben müsste.

»Liebling«, flüsterte sie.

»Mama ...«, stieß er zwischendurch aus. »Hilf mir«, krächzte er.

Sie kniete sich zu ihm und fühlte seine Stirn, er glühte regelrecht, aber trotzdem schien er zu zittern.

Sie nahm einen Lappen und ließ kaltes Wasser den Stoff durchweichen. Sie tupfte seine Stirn und wusch ihm die Reste vom Mund. Er fiel ihr um den Hals und weinte. Der Schmerz ließ seine Welt nebelig erscheinen. Der Schmerz in seinem Magen.

»Pscht, es ist alles gut. Ich bin da. Ich bin bei dir.«

Sie blickten einander in die Augen, dann stand sie langsam wieder auf und half auch ihrem Sohn. »Ich weiß, der Geschmack ist widerlich, aber das vergeht. Setz dich und putz dir erst einmal die Zähne«, sagte sie und versuchte möglichst gelassen zu wirken. ›Nur eine Magenverstimmung‹, wollte sie hinzufügen, aber das brachte sie nicht übers Herz. »Ich hol dir etwas zum Anziehen.« Sie lächelte und verließ das Zimmer.


Nun konnte er sie nicht mehr sehen, ihre Reaktion nicht mitkriegen. Den Lappen noch in der Hand, nahm sie den Hörer ab und wählte eine Nummer.

Sie musste sich einige Sekunden fangen, den blutigen Lappen verstecken und die Tränen wegwischen.


Als sie wieder bei ihrem Sohn war, reichte sie ihm neue Klamotten. Er war noch sehr wackelig und sie half ihm beim Umziehen. Etwas, was sie seit vielleicht 13 Jahren nicht mehr machen musste. Ihr Sohn war fast 19, erwachsen. Aber er würde immer ihr kleiner Schatz bleiben. Solange sie lebte, war sie seine Mutter und vielleicht auch darüber hinaus. Sie hoffte immer, dass niemals etwas ihnen in die Quere kommen würde. Sie träumte davon, mit ihren Enkelkindern im Garten zu toben, während ihr erwachsener Sohn mit seiner Frau dabei zusah. Das war ihr größter Wunsch.

Nun aber musste sie ihren Sohn ins Krankenhaus bringen.

»Wie fühlst du dich?«

Müde zuckte er mit den Schultern.

»Vielleicht hast du eine Lebensmittelvergiftung? Komm, lass uns das im Krankenhaus abklären.«

Er hatte keine Kraft zu widersprechen und wollte den Schmerz einfach nur abschalten.

Es war ein Uhr nachts. Wie lange er sich übergeben musste, wusste er nicht.

Schmerzen spürte er seit einigen Tagen, immer wieder. Aber er machte sich nichts daraus.

Er war Sportler und die Erwartungen und der Druck waren manchmal etwas zu viel für ihn. Zumal er sich auch in der Schule reinhängen musste, damit er auch weiterhin im Team bleiben durfte.

Möglicherweise wollte ihm sein Körper zeigen, dass er eine Pause benötigt. Das er nun endlich einmal etwas kürzer treten müsste.

Doch dann fing die Übelkeit an und er konnte kaum noch etwas essen.

Aber auch das beunruhigte ihn nicht sonderlich.

Man wird nicht mit 18 Jahren krank.

Er lernte an diesem Abend bis spät in die Nacht. Immer wieder musste er aufstoßen und ärgerte sich dabei. Wichtige Arbeiten standen bevor und er durfte nicht scheitern oder krank werden. Er wollte seine Mutter nicht enttäuschen. Sie hatte es auch so schon schwer genug. Alleinerziehend, mit einem Job, der sie sehr beanspruchte.

Er konnte tagsüber nicht lernen, da seine beste Freundin ihn brauchte. Also musste er die Nacht zum Tag machen.

Zuerst kam die Übelkeit, dann der Schwindel. Er musste den Stift zur Seite legen, erkannte kaum mehr ein Wort. Alles war verschwommen. Er legte seinen Kopf auf sein Physik Buch und hoffte, dass es dadurch besser werden würde. Doch wurde es nur schlimmer. Schnell rannte er ins Badezimmer. Seine Mutter wollte er nicht wecken. Sie müsste in wenigen Stunden aufstehen und ihre morgendliche Schicht antreten.


Das sie überhaupt fuhren, bekam er erst mit, als der Wagen bereits stand. Sie parkten nicht weit vom Krankenhaus. Eine Krankenschwester wartete bereits mit einem Rollstuhl am Eingang.

Erleichtert stiegen sie aus und sie freute sich, dass ihr Anruf ernst genommen wurde.

»Hallo, Sie sind Familie Joy, oder?«, wurden sie begrüßt.

»Hallo, ja, danke, dass es so gut geklappt hat.«

»Und du bist Nick?« Die Krankenschwester entdeckte Blut im Mundwinkel des Jungen und blickte seine Mutter besorgt an.

Nick ließ sich in den Rollstuhl nieder und wurde hineingeschoben.

Stunden später versuchte Frau Joy ihre Fassung nicht zu verlieren. Sie versuchte, stark zu sein. Aber ihr Herz wurde immer schwerer. Die Diagnose, die nur zaghaft in den Raum geworfen wurde, hing wie eine dunkle Wolke über ihr. Jedes Wort, was folgte, fühlte sich wie Hagelkörner auf der Haut an. Noch aber bestand Hoffnung, noch war es nicht zu spät.


Nick glaubte, dass sich der Nebel, in dem er sich seit Stunden bewegte, immer mehr zuzog. Dass er zu verschlingen drohte.

Er starrte vor sich her, verstand kaum ein Wort. Doch dann erschrak er:

»Ich kann nicht weg, nicht jetzt!«

»Nick, bitte. Es muss sein.«

Sie wurden alleine gelassen, damit sie in Ruhe darüber reden konnten.

»Ich kann Cassie nicht verlassen! Sie braucht mich!«

»Cassandra? Dein Leben steht auf dem Spiel und du denkst an Cassandra?«

»Du verstehst das nicht!«, sagte er.

»Was soll ich nicht verstehen? Du liebst sie, sie dich aber nicht. Sie nutzt dich doch nur aus!«

Er schüttelte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Die er zuließ. Es spielte keine Rolle. Er wollte weinen, den Schmerz davon spülen. Die Vergangenheit fortwischen.

»Nick?«

Er holte tief Luft.

»Cassandra hat mir das Leben gerettet, dabei aber hängt ihrs am Seidenenfaden.«

Blass und verwirrt setzte sich Kate zu ihrem Sohn.

Er musste es ihr erzählen. Es ging nicht anders. Sie musste die Wahrheit erfahren.

Gerade als er ausholen wollte, trat der Arzt zu ihnen und reichte einige Unterlagen.

»Wir haben einen Platz für dich erhalten, Nicholas. Du … Nick, es ist wirklich wichtig. Wir glauben, wir können den Tumor bekämpfen. Du hast gute Chancen! Aber dafür musst du in eine Spezial-Klinik.«

Er blickte in die Gesichter um sich herum. Sah den Schmerz in den Augen dieser fremden Leute. Menschen, die tagtäglich mit Krankheit und Tod leben müssen. Doch der Schmerz in ihren Augen war echt. Er war 18.

Niemand wird mit 18 Jahren krank.

Er schaute zu seiner Mutter und ihr Schmerz traf ihn noch mehr. Er musste kämpfen. Für sie. Für Cassie. Wenn er jetzt nichts unternehmen würde, wäre es womöglich zu spät. Er musste für Cassandra da sein, wenn sie ihn brauchte. Die Erinnerung an sie, wie er sie vor wenigen Stunden sah, raubte ihm die Luft. Sie war so zugerichtet.

Also willigte er ein und sie fuhren zurück, um eine Tasche zu packen. Als sie sich wieder ins Auto setzten und eine Weile schon unterwegs waren, bat seine Mutter, ihm alles zu erzählen.

Also begann er:

»Es ist schon etwas her und …«, er hielt inne und holte tief Luft: » … wir wollten uns direkt nach dem Training treffen. Sie war, wie immer, überpünktlich und ich mal wieder Letzter, da ich unbedingt noch eine neue Wurftechnik versuchen wollte, die mir aber nicht gelang. Also machte ich solange weiter, bis ich endlich traf. Als ich den Basketball wegräumte, war nur noch der Aushilfstrainer da. Ein Mann, der gelegentlich vor einem großen Spiel assistierte.

Er lobte mich für den Wurf und freute sich mit mir. Da ich mich mit Cassie verabredet hatte und wir etwas unternehmen wollten, konnte ich natürlich nicht stinken. Also ging ich unter die Dusche ...« Nick hielt kurz inne und atmete tief durch. »Wie gesagt, es war sonst niemand da … Ich stand mit dem Gesicht zur Wand und als ich mich umdrehte war plötzlich dieser Mann da. Er stand da, die Hose geöffnet und beobachtete mich. Ich wollte wegrennen, irgendwas machen. Aber er war schneller. Er drückte mich an die Wand, mit einer Hand hielt er mich fest, die andere …

›Hey, du Arschloch!‹, brüllte plötzlich jemand und bevor der Typ etwas machen konnte, traf ihn ein heißer Wasserstrahl. Cassandra war so geistesgegenwärtig. Sie hat mir das Leben gerettet.

›Ich habe die Polizei schon gerufen!‹, sagte sie streng und hielt ihr Handy in die Höhe. ›Du lässt also besser meinen Freund los oder ich werde noch etwas anderes von dir verbrennen!‹, schrie sie nun.

Der Typ rannte so schnell es ging davon.

Cassandra drehte sich um und reichte mir ein Handtuch. Es war das Mutigste, was jemand hätte machen können. Sie war so mutig. Obwohl damals schon ihr Leben in die Brüche ging. Später sagte sie, sie habe draußen gewartet und sei immer wieder hin und her marschiert. Sie hat mich dann schließlich gesehen, wie ich zu den Duschen ging und kurz darauf aber den Mann erspäht. Er blickte sich immer wieder um, wirkte aber entschlossen. Als auch er in der Dusche verschwand, musste sie sichergehen, dass alles in Ordnung ist«, versuchte er zu erzählen und verschluckte hin und wieder ein Wort. Die Erinnerung ließ ihn erzittern. Übelkeit stieg in ihm hoch. Alles drehte sich, doch blieb er stark.

»Nick … warum hast du nie etwas erzählt?« Kate wurde ganz blass. Sie fasste sich an die Stirn und ihr wurde richtig schlecht.

»Ich konnte nicht. Ich wollte dir keinen Kummer bereiten, ...« Er blickte sie traurig an.

»Was ist mit dem Mann geschehen, wer war es?«

»Er ist verschwunden. Kam nie mehr zurück. Natürlich hatte Cassie nicht die Polizei so schnell verständigen können, aber sie ging später zum Direktor und hat es erzählt.

Mama, Cassandra darf nicht wissen, dass ich krank bin.«

»Ich erzähle ihr, dass du bei deinem Vater bist. Und dort erst einmal eine Weile bleibst. Ihr wollt euch wieder nähern, du und dein Papa. Wieder Zeit miteinander verbringen, neu kennenlernen. Versprochen.«

»Wir wollten uns heute wieder Treffen.«

»Ich simse ihr. Ich nehme dein Handy und schreibe ihr immer mal, so wie du es tust.«

»Aber ...«

»Ich werde dir so ein billig Handy besorgen. Es wird alles gut, ich verspreche es dir.«

Nick hatte seine Zweifel, aber er schluckte alles Weitere runter. Die nächsten Wochen oder Monate würden schwer genug werden.

Nachdem sie alles geklärt hatten, holte ihm seine Mutter ein neues Handy, damit er sie anrufen konnte, wenn er etwas auf dem Herzen hatte.


Cassandra schrieb sie, wie versprochen, immer wieder eine Nachricht. Sie musste alles auch mit der Schule klären und nahm ihren Sohn einen Monat vor den Sommerferien aus dem Unterricht. Er war klug und würde alles nachholen können.

Die Zukunft würde nicht einfach werden.


Kate Joy wachte über Cassie. Sie wusste nun, was sie für ihren Sohn getan hatte. Es hätte ihn zerstört. Ihn vernichtet. Niemand kann so etwas einfach wegstecken.

Doch nicht einmal sie konnte Cassandra vor dem Schmerz beschützen, der ihr Herz einnahm.


Nick war über ein halbes Jahr weg. Er sehnte sich nach ihr.

Seine Freundin vermisste ihn so sehr, dass es ihr Herz zerriss.

Doch musste sie weitermachen. Sie wusste nicht, warum er so lange weg war.


Wenn sie doch nur die Wahrheit erfahren hätte …

1. Am Seidenenfaden


Cassie

»Erde an Cassie!«

Cassandra war ein verträumtes Mädchen. Sie war ständig mit ihren Gedanken woanders. Irgendwo, nur nicht im Hier und Jetzt.

Sie träumte immer von einer anderen Welt, einem anderen Leben. So konnte sie entfliehen. Aber leider funktionierte es nicht dauerhaft und schon gar nicht, wenn ihr bester Freund bei ihr war.

Nick wusste zwar, wieso sie manchmal so abwesend war, doch konnte er es nicht immer verstehen. Diese Melancholie, die sie stets umgab, wirkte auch auf ihn niederschlagend. Dabei wollte er für sie da sein, sie unterstützen. Sie vor sich selbst retten, wenn es sein musste. Doch lange könnte er es nicht mehr mitmachen.

»Tut mir leid Nick, was wolltest du wissen?«

»Ob wir heute Abend etwas unternehmen können? Kino oder so?«

»Nee, heute geht’s nicht.«

»Wieso?«, fragte er überrascht.

»Hätte ich dich etwa um Erlaubnis bitten sollen?«, antwortete sie etwas gereizter als beabsichtigt.

»Oh, natürlich nicht. Es ist nur so, ...«, begann er nun zu stammeln, »wir hatten uns doch für heute Abend verabredet. Das haben wir vor einigen Wochen ausgemacht.«

»Haben wir das?«

»Cassie, wir kennen uns auf den Tag genau fünf Jahre. Weißt du nicht mehr? Du warst 13 und ich 14, wir hassten uns früher. Ich weiß sogar noch, wie du mich mal fast verprügelt hättest. Zum Glück wurden wir dann doch noch Freunde.«

»Ach ja.« Nein, eigentlich erinnerte sie sich nicht an das Versprechen. Sie spähte unauffällig in ihren Kalender, doch da stand auch nichts drin. Aber sie wusste, dass ihr Jahrestag bevorstand. Schließlich unternahmen sie an diesem Tag immer etwas Besonderes. Letztes Jahr gingen sie in ein sündhaft teures Restaurant. Beide hatten ihr Taschengeld lange dafür gespart und zogen sich extra schön an.

»Schade das wir nichts Festes ausgemacht haben«, nuschelte sie, als sie den Schmerz in seinem Blick registrierte. Doch dann wurde sie sauer, weil er sie so überrumpelte.

Sie wollte niemanden enttäuschen, doch lastete solch ein Druck auf ihr, dass sie nicht an alles denken konnte.

Sie rackerte sich in der Schule ab, damit sie verschwinden konnte. Lernte so viel, dass ihr der Kopf wehtat. Sie wollte ausbrechen, doch noch musste sie dafür hart arbeiten.

An manchen Tagen spürte Nick eine solche Distanz zwischen ihnen, dass die Kluft fast unüberwindbar erschien.

Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal gelacht? Wann haben sie das letzte Mal zusammen gelacht?

Sie räusperte sich.

»Sorry, aber ich kann heute echt nicht. Weißt du, ich habe vor einer Weile jemanden kennengelernt.«

Er zog eine Augenbraue hoch und sein Blick verriet, dass er tausend Fragen hatte. Warum sagte sie nie etwas?

»Sein Name ist Benny und er ist verdammt süß. Wir hatten uns auf der Geburtstagsfeier meiner Schwester zum ersten Mal getroffen. Irgendwie waren wir die Einzigen unter zwanzig da. Benny wollte nur kurz meiner Schwester gratulieren, doch verfingen wir uns in ein Gespräch und tauschten unsere Nummern aus. Seitdem schreiben wir uns täglich und wollen uns heute endlich mal treffen. Ach Mist, dass heute unser fünfjähriges ist. Bist du mir doll sauer?«

»Nein. Geh du ruhig«, seine Stimme schwankte.

Er lief aus dem Zimmer und ließ sie einfach zurück.

»Nick?«, sie wollte ihm nachlaufen, doch war er schneller.

»Seltsam«, sagte sie laut.

›Was ist nur mit Nick los? Als ob der Jahrestag so wichtig sei‹, grübelte sie.


Das junge Mädchen schaute auf ihre Uhr an der Wand und schob die Gedanken an Nick zur Seite, da sie sich nun auf ihre Verabredung konzentrieren wollte und sich langsam fertigmachen musste.

Cassie war überglücklich, als sie Benny endlich wieder traf. Sie sah zum ersten Mal nach unendlich langer Zeit wieder fröhlich aus. Während Nicks Abwesenheit kam sie sich wie ein Zombie vor.

Alles wurde so unerträglich. Sie fühlte sich an manchen Tagen wie betäubt. Als Nick endlich wieder zurück war, schien ihr Herz wieder geflickt zu sein. Doch die Leere und Enttäuschung blieb. Es fühlte sich an, als hätte er sie im Stich gelassen. Sie wusste, wie wichtig die Zeit für ihn mit seinem Vater war. Aber das Gefühl biss sich fest. Es hinterließ etwas Bleibendes. Sie hätte ihn gebraucht. Das, was alles passierte, erdrückte sie. Nahm ihr die Luft zum Atmen. Alles, was sie machen konnte, war sich selbst zu verletzen. Damit der andere Schmerz dadurch unterdrückt werden konnte. Damit sie nur das spürte, was sie sich selbst zufügte. Mehr nicht. Sie durfte die Kontrolle nicht verlieren.


Sie fühlte sich so unendlich einsam. Ihr einziger Lichtblick hatte sie verlassen, für über ein halbes Jahr. Sie konnte sich nur Nick öffnen. Nur ihm ihre Ängste anvertrauen. Doch merkte sie auch die Kluft zwischen ihnen, die diese Distanz auslöste. Die Nachrichten wurden immer weniger, die sie sich schrieben. Sie wollte alles erfahren, doch zog er sich gelegentlich zurück. Irgendwas schien vorgefallen zu sein. Aber was, das wollte er ihr scheinbar nicht sagen.


Cassandra war 18 Jahre alt und sehnte sich nach jemanden, der sie liebte, so wie sie war.

Noch nie hatte sie einen Freund gehabt.

Schlecht sah sie nicht aus. Im Gegenteil, sie war ein hübscher Teenager. Aber sie wirkte oft abwesend und in sich gekehrt.

Wahrscheinlich lag es daran, dass sich die Jungs nicht trauten, sie anzusprechen. Ab und zu hatte auch sie eine Verabredung, doch merkte sie schnell, dass Jungs sie nur ausnutzen wollten. Seitdem war sie vorsichtiger. Doch bei Benny hatte sie ein gutes Gefühl. Und sie sollte Recht behalten.


Nick

Die Schmerzen waren zurück. Die Ergebnisse der Untersuchung ebenfalls.

Die Nachricht traf Nick so hart, dass die Versuche seiner Mutter, ihn zu beruhigen, an ihm abprallten. Er brauchte nur einen einzigen Menschen. Nur eine Person könnte ihm die Kraft geben, die er benötigte. Sie war früher immer für ihn da, so wie er für sie da war. Sie telefonierten oftmals bis tief in die Nacht hinein und erzählten sich alles.

Sie würde ihn auffangen. Für ihn da sein.

So, wie er immer an ihrer Seite war. Wenn es ihr nicht gut ging oder sie Zuflucht brauchte.

Jedenfalls war es einmal so gewesen.

Bevor er wegging.

Sie würde ihm beistehen, wenn sie die Wahrheit wüsste. Das war ihm bewusst. Er rügte sich dafür, dass er es ihr verheimlichte. Warum nur musste er schweigen? Nun schien er sie verloren zu haben.

Ob sie ihm jemals verzeihen würde?

Er brauchte sie. Cassandra fand immer die richtigen Worte und Gesten. Sie hielt ihn, wenn er am Boden war.

Doch spürte er auch, dass er ihr Herz gebrochen hatte.


Er wusste von den Ergebnissen und wollte einen Abend lang ein normaler Teenager sein. Nicht darüber nachdenken müssen, was passieren wird. Nicht über die Konsequenzen grübeln. Er wollte diesen Abend nutzen, um über alles zu sprechen. Endlich reinen Wein einschenken. Dass sie keine Zeit hatte, konnte er verstehen. Doch reagierte sie nicht auf seine Anrufe. Auch nicht, als sie schon längst zu Hause war. Denn weit wohnten sie nicht voneinander entfernt. Sein Herz zerbrach, als ihm bewusst wurde, dass er zu lange gewartet hatte. Er wusste, sie empfand anders. Doch ihm lief die Zeit davon. Wieso war er nur so feige gewesen?

Nun war Cassie nicht mehr alleine, nun hatte sie diesen Benny. Sie brauchte Nick nicht mehr.

Cassie

Es war schon recht spät, als sie wieder zu Hause war. Zufrieden lächelte sie, als sie sich ihre Schuhe auszog und in ihr Zimmer verschwand. Leise, ohne jemanden zu stören. Sie setzte sich auf ihr Bett und lächelte immer noch. Ihre Wangen waren leicht gerötet und sie spürte dieses Kribbeln in ihrer Bauchgegend.

Nun zog sie langsam ihr Handy aus der Tasche, sie hatte es den ganzen Abend über lautlos gehabt. Wollte nicht gestört werden. Doch nun traute sie ihren Augen kaum: vier Anrufe in Abwesenheit, sechs Kurzmitteilungen.

Sie starrte auf die Nachrichten, die kaum einen Inhalt hatten:

›Ruf mich bitte an.‹

›Kannst du dich melden, wenn du da bist?‹

›Können wir uns Unterhalten?‹

›Hallo Cassie, ich bin es Nick.‹

›Sehen wir uns morgen?‹

›Ist alles in Ordnung? Melde dich doch, sobald du kannst.‹

Nur wenige Minuten später klingelte es erneut, doch diesmal drückte sie den Anruf gleich weg und machte ihr Mobiltelefon gänzlich aus. Warum war er nur so? War er eifersüchtig? Nein. Oder doch? Schließlich hatte er schon eine Freundin gehabt und Cassie störte das auch nicht. Sie hatte plötzlich alle möglichen Theorien in ihrem Kopf. War er in sie verliebt? Das durfte nicht sein. Er war ihr bester Freund und noch nie kamen ihr andere Gefühle für ihn in den Sinn. Sie wollte es mit ihm nicht vermasseln. Er durfte sie einfach nicht anders wahrnehmen. Sie konnte ihn nicht als Freund verlieren. Er war der Einzige, der für sie da war. Und doch schnürte etwas ihre Luft ab. Er setzte sie unter Druck und das spürte sie. Nick wollte irgendwas von ihr, aber sie mochte es nicht, wenn sie jemand zu sehr drängte.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, legte eine CD ein und schrieb in ihr Tagebuch folgendes:


›Liebes Tagebuch! Ich weiß, dass ich immer launisch bin und nie weiß, was ich will. Aber so bin ich nun mal. Ich bin eine Träumerin. Ich träume von der Liebe, von Hoffnung und vom Schicksal. Nick sagt immer, ich träume zu sehr und meine Stimmung ändert sich viel zu schnell.

Doch wenn er mich ständig kontrollieren will, wenn er ständig wissen will, was ich mache, wie kann ich da noch ruhig bleiben? Und damit zerstört er langsam aber sicher unsere Freundschaft, so leid es mir auch tut. Bald kann ich einfach nicht mehr.

Er ging weg, er meldete sich kaum noch.

Doch dieses Mal glaube ich, habe ich endlich einen Jungen kennengelernt, der mich mag, so wie ich bin. Mit Benny habe ich hoffentlich jemanden gefunden, mit dem ich zusammen träumen kann. Über eine gemeinsame Zukunft. Ich hoffe es so sehr! Vielleicht kann ich eines Tages von hier verschwinden.‹


Cassandra atmete tief durch, legte den Stift zur Seite und stand langsam wieder auf. Sie war müde und zog sich für die Nacht um. Bevor sie ins Badezimmer schlüpfte, spähte sie aus der Tür und lauschte, ob sie etwas hörte. Aber das Haus war ruhig und niemand mehr wach. Schnell schlich sie hinaus und schloss die Tür vom Bad hinter sich ab. Sie schaute in den Spiegel, kämmte ihr langes braunes Haar durch, putzte die Zähne und wusch sich das Gesicht. Lange wollte sie sich aber nicht im Badezimmer aufhalten, denn sie fühlte sich nicht wohl in diesem Raum. Nur eine winzige Stelle hatte sie für ihre Sachen zur Verfügung. Deshalb lagerte sie alles, was sie brauchte, in einer Schublade in ihrem Schreibtisch.


Das Mädchen fühlte sich oft eingesperrt.


Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, cremte ihr Gesicht ein und benutzte einen Pflegebalsam für ihre Lippen. Sie holte ihren kleinen Handspiegel aus der Schublade und schaute kurz hinein. Mit einem leisen Seufzer legte sie alles wieder zurück und benutzte noch eine Körperlotion für ihre Arme und Hände.

Bevor sie das Licht löschte, blickte sie sich um. Es war ein typisches Mädchen Zimmer, nur hingen an ihren Wänden keine Boyband Poster, sondern von Rockstars. Ihre Wände waren Sonnengelb, aber sehr hell. Sie blickte zu ihrem Bett und überlegte, ob sie neue Bettwäsche bräuchte. Ihre waren Fliederfarben, mit einigen Verzierungen. Sie mochte keine Blumen, aber ganz schlicht sollte es auch nicht sein. Deshalb waren einige Ornamente darauf abgebildet.

Es war ihr Lieblingsplatz. Hier war sie ungestört, hier konnte sie entspannen und die Welt aussperren. Doch für wie lange? Sie hatte so ein komisches Gefühl. Als würde bald etwas passieren. Das mit Benny fühlte sich einfach zu gut an. Irgendwas … doch sie ließ diese Gedanken nicht zu. Nicht heute. Sie wollte glücklich sein, verliebt. Sie war verliebt. Benny war ein guter Junge. Sie wusste es. Sie fühlte es.

Aber beruhte es auch auf Gegenseitigkeit?


Es waren gerade Ferien und Cassie wollte ausschlafen, doch schon gegen zehn Uhr in der Früh klopfte es an ihrer Tür. Verschlafen blickte sie ihren Besuch an. Seine dunklen Haare sahen in diesem Licht irgendwie unnatürlich wirr aus. Er hatte Ringe unter den Augen. Sein T-Shirt schien zu weit, genauso wie die Hose.

»Nick, was machst du denn hier?«

»Ich wollte dich sehen!«

»Warum?« Müde rieb sie ihre Augen. Die langen, dunkelroten Vorhänge waren noch zugezogen, doch durch einen kleinen Spalt zwang sich ein Sonnenstrahl durch und wollte entdeckt werden. Für Ende März war es schon sehr warm.

Cassie stand auf und ließ die Sonne hinein und begrüßte den Tag mit einem tiefen Atemzug. Sie trug nur Shorts und ein T-Shirt. Nick beobachtete sie und fand ihre zerzausten Haare besonders süß. Mit einem Seufzer ließ sie sich zurück auf ihr Bett sinken und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

»Weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe!«, entgegnete Nick nach einer kurzen Pause.

»Warum das denn schon wieder?« Sie blickte ihm tief in die Augen. So langsam bestätigte sich ihr Verdacht. Er war eifersüchtig. Aber warum? Sie war doch ein Nichts, er könnte doch wirklich jemand Besseres finden.

»Weil du nicht ans Handy gegangen bist.«

»Ja, und? Meinst du, ich lasse mein Handy laut, wenn ich mit jemanden weggehe? Zudem war ich zu müde, um noch mit dir zu reden. Ich bin gestern erst halb zwölf zu Hause gewesen.«

»Bist du irgendwie sauer auf mich?«

»Nick, du musst endlich verstehen, dass, auch wenn wir Freunde sind, ich dir nicht alles erzählen kann und ich mich auch mal mit Jungs treffe. Bisher hatte ich nur Pech, wie du weißt. Benny könnte wirklich der Richtige für mich sein. Wir hatten echt Spaß gestern. Habe ich nicht etwas Glück verdient? Ich musste die Zeit überstehen. Du warst lange weg. Du hast dich kaum mehr gemeldet. Es … Eine Freundschaft braucht auch pflege«, sagte sie schon fast flehentlich. Sie wirkte so verloren. Am liebsten wäre er zu ihr und hätte sie umarmt. Aber er spürte die Distanz.

»Ich verstehe voll und ganz.« Erst da bemerkte er ihr offenes Tagebuch. Ihr Schreibtisch stand rechts von ihm. Unauffällig trat er einen Schritt darauf zu und überflog den letzten Eintrag, als sie erneut aufstand und aus dem Fenster schaute.


›Und damit zerstört er langsam aber sicher unsere Freundschaft, so leid es mir auch tut. Aber bald kann ich einfach nicht mehr.‹


»Ach tust du?«

»Cassie, ich mache mir nur Sorgen. Ich weiß, wer du bist und ich«, er stoppte, musste sich sammeln. »Ich weiß, wie du auf Rückschläge reagierst.« Er ging einige Schritte auf sie zu. Weg von den schmerzenden Zeilen.

»Ja, aber Nick, ich bin kein kleines Kind mehr. Ich weiß was ich will.«

Nick


Eigentlich war er nicht wegen ihres Treffens mit Benny gekommen, sondern weil er ihr etwas anvertrauen wollte. Nicht dass er sie liebte, nicht nach dieser Reaktion.

Sein Herz wurde schwerer und sein Mut sank. Die Wahrheit würde ihr Herz brechen. Doch konnte er ihr das trotz allem nicht antun. Sie mochte ihn vielleicht weniger als er sie, aber das würde sie nicht verkraften. Ihr Glück sollte nicht von seinem Schmerz beeinflusst werden.

Auch wenn Nick Angst hatte und die ganze Nacht wach lag, wollte er ihre rosa Wolke nicht zerstören. Sie hatte Träume, Ziele, Wünsche. Bald schon würde er der Vergangenheit angehören. Eine vage Erinnerung.

»Nick, ich kann auf mich aufpassen. Misch dich nicht in mein Leben ein, okay!« Ihre Stimme zitterte und sie musste sich beherrschen nicht laut zu werden.

»Erwarte keine Hilfe, wenn du wieder am Boden bist, Cassie. Dieses Mal kann ich dir nicht helfen, dieses Mal nicht.«

Das Fenster spiegelte ihr Gesicht wider. Sie konnte auch ihn erkennen. Sie wollte sich ja umdrehen, aber er sollte nicht die Träne sehen, die sich davon stahl.

Seine Worte brachten etwas zum Vorschein, was sie lange nicht mehr spürte.

Er war immer für sie da, aber in diesem Moment schien ihre Unterhaltung fruchtlos, sogar sehr niederschmetternd.

›Warum kann ich nicht mit ihr darüber reden?‹, dachte sich der Junge.

»Aber, Nick …?« Noch bevor sie sich umdrehen konnte, war er schon verschwunden.

Cassie


Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen. Sah ihn hinauslaufen. Er blickte nicht einmal mehr zu ihr hinauf. Doch erkannte sie den Schmerz. In all den Jahren hat er nie so reagiert. Bevor er aus ihrem Blick verschwand, erkannte sie den Mann in ihm. Wann ist er nur so erwachsen geworden?

Wann wurde aus dem Jungen, der immer für sie da war und mit dem sie Pferde stehlen konnte, ein Mann? Spielte die Zeit ihr streiche?

Sie waren nun nicht mehr gleichgroß, sondern er überragte sie um fast einen Kopf.


Sie versuchte, ihn sehr oft zu erreichen, um sich bei ihm zu entschuldigen, doch legte er gleich auf, sobald er ihre Stimme erkannte.

Kurz darauf ließ er nur noch den Anrufbeantworter ran gehen. Sie wollte wissen, was mit ihm los war. Warum er so reagierte. Doch schien es vorbei zu sein. Sie wollte nicht ihre Freundschaft aufgeben. Nick war scheinbar nicht in der Lage mit ihr ordentlich zu reden. Es war echt seltsam, so kannte sie ihn nicht.

Nick


Die Wochen vergingen und doch konnte Nick diese Zeilen nicht vergessen:

›Und damit zerstört er langsam aber sicher unsere Freundschaft, so leid es mir auch tut. Bald kann ich einfach nicht mehr.‹


›Ich zerstöre unsere Freundschaft? Sie ist schon zerstört. Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit ihr reden, aber sie würde es nicht verstehen. Es ist wohl besser, wenn ich es einfach für mich behalte. Irgendwann wird sie es so oder so merken. Schließlich sind schon drei Wochen vergangen, seit wir uns das letzte Mal sahen. Wenn der Schmerz nur nicht so stark wäre. Ich will ja mit ihr reden, aber ich kann nicht. Würde sie es verstehen? Ich vermisse sie so sehr‹, ging es ihm vor dem Schlafen durch den Kopf. Sie war sein letzter und erster Gedanke am Tag.


Nick ging es nicht gut. Die Schmerzen wurden stärker. Manchmal konnte er nicht einmal zum Unterricht, und das im letzten Schuljahr.

Langsam verlor er die Hoffnung. Nichts half. Wenn er doch wenigstens mit Cassie sprechen könnte. Natürlich hörte er das Telefon. Und sah sie in der Schule. Aber der Schmerz steckte zu tief.

Eines Tages beschloss er, es einfach zu verschweigen. Vielleicht könnte er ihr so den Kummer nehmen. Noch einmal vor sich selbst beschützen.

Er kannte Cassandra besser als alle anderen. An manchen Tagen oder Nächten rief er sie genau zum richtigen Zeitpunkt an. Bevor sie sich etwas antun konnte. Aber könnte sie es sich wirklich verzeihen? Würde sie sich Vorwürfe machen, weil sie nicht für ihn da war?


Cassie


»Cassie?«

»Entschuldige Benny.« Sie wirkte plötzlich wieder so abwesend, dachte über so vieles nach.

»Was ist los mit dir?«

»Nick.«

»Was ist mit ihm?«

»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Er meldet sich nicht bei mir, er geht nicht ans Telefon oder beantwortet meine E-Mails.

Selbst in der Schule redet er nicht mehr mit mir. Ich sehe ihn, begrüßte ihn und er geht weiter. Als sei ich Luft. Und an machen Tagen ist er gar nicht da«, sprach sie niedergeschlagen.

»Cassandra, jetzt mal ehrlich, was empfindest du wirklich für Nick?«

Sie waren in seinem Zimmer. Sie war gerne hier. Alles erinnerte sie an ein anderes Leben. Er hatte eine große Anlage, die fast eine komplette Wand einnahm. Sein Kleiderschrank ließ erahnen, dass er sich Gedanken um sein Outfit machte. Aber dabei keineswegs eingebildet war. Das Bett war weich und groß und der Schreibtisch ordentlich aufgeräumt. Ein Computer stand darauf, daneben einige Heftnotizen und Zettel. Aber alles wirkte stimmig. Neben seiner Tür ragte ein Bücherregal mit Fachliteratur. Aber noch wusste er nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Er schnupperte überall hinein.

Rechts neben seinem Bett war ein überfülltes CD-Regal und auf der linken Seite seine Sportecke: Hanteln, Fußball und ein Basketball lagen umher und diverse Schläger. Er hatte natürlich auch eine sportliche Figur und sie beobachtete ihn gerne.

»Ich weiß es nicht, okay. Er ist seit Jahren mein bester Freund. Und plötzlich soll es vorbei sein«, sagte sie kopfschüttelnd. Sie blickte zu Boden.

»Entscheide dich!«

»Was? Wie meinst du das?« Er kniete sich vor sie und hielt ihre Hand. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und fügte hinzu:

»Ich meine, wir sind jetzt seit fast drei Wochen zusammen und manchmal weiß ich nicht, wen ich vor mir habe. Du bist so schwankend. Du bist romantisch, melancholisch, verträumt, und dann lachst du wieder. Warum bist du so?«

»Ehrlich?« Er nickte. »Okay«, sie löste sich von ihm und stand auf. Sie suchte nach Worten, suchte nach einer logischen Erklärung und doch konnte sie nur Dinge aneinander reihen: »Du hast das Weinen vergessen. Wo soll ich nur anfangen?« Er sagte nichts, sondern versuchte einfach nur zuzuhören.

»Das Leben, so wie es ist und so wie ich es momentan erlebte, ist für mich nicht einfach. Früher dachte ich immer, ich wäre überflüssig. Jedenfalls habe ich das oft gehört. In der Schule war ich nie außerordentlich beliebt und wurde auch sehr oft schikaniert. Das änderte sich, als ich Nick kennenlernte. Ich wusste, dass er für mich da ist und das er mich akzeptierte. Okay, am Anfang konnten wir uns nicht leiden, aber unsere Eltern waren befreundet und wir mussten mal auf den Geburtstag eines alten Mannes, ich weiß bis heute nicht, wer das überhaupt war.

Es waren zwar eine Menge Kinder da, doch waren die sehr eingebildet und hochnäsig. Zum Glück fand ich im Garten, des alten Mannes, einen Basketballkorb und auch einen Ball. Ich warf einige Körbe, bis ich Nick entdeckte. Er saß hinter einem Baum und wirkte traurig. Ich warf den Ball neben ihn, sodass er mich bemerkte. Er stand auf und forderte mich auf ein Spiel auf. Als wir uns beide keuchend nach über einer Stunde auf den Boden setzten, fragte ich ihn, was los sei. Er sprach über die bevorstehende Scheidung seiner Eltern. Mir kam es gar nicht so vor. Sie wirkten sehr vertraut, als ich sie auf der Feier sah. Doch so kann das Äußere täuschen. Seit diesem Moment sind wir Freunde. Doch auch bei mir lief es seit einiger Zeit nicht gut.

In meinem Leben zerbrach alles und ich erfuhr erst, als sich meine Eltern trennten, dass meine leibliche Mutter bei meiner Geburt gestorben sei.

Meine Stiefmutter begegnete mir stets mit Abneigung. Ich weiß allerdings nicht, warum das so war. Ständig lehnte sie mich ab. Wenn ich mit ihr über etwas reden wollte, ging sie. Ich durfte für sie alles machen. Putzen, kochen, einfach alles. Ich war wie ein modernes Aschenputtel.

Zwischen ihr und mir ist sehr viel vorgefallen. Dinge, die ich einfach nur vergessen wollte und sehr lange gebraucht habe, um es zu verarbeiten.

Mein Vater war kaum zu Hause und erst, als es fast zu spät war, bekam er überhaupt etwas von all der Qual mit.

Schließlich ließ er sich von ihr scheiden.

Nachdem diese Frau mir in ihrem Zorn die Wahrheit über meine Mutter erzählt hatte, fragte ich meinen Vater und er bestätigte es. Er wollte mir nie das Gefühl vermitteln, dass es meine Schuld gewesen war. Deshalb hat er nie darüber gesprochen. Doch nachdem die Bombe geplatzt war, schien er daraus nun kein Geheimnis mehr machen zu müssen. Und jedes Mal, wenn er sauer auf mich ist, kommt dieses Thema erneut hoch,« sprach sie. Cassie versuchte, sich zu ordnen, doch alles, was sie dachte, war so verwirrend und Durcheinander. So lange schwieg sie darüber. So lange wusste nur einer davon. Sie räusperte sich, sah Benny in die Augen und erzählte weiter. Sie war nervös und biss sich immer wieder in ihre Unterlippe.

»Es hat gar nicht so lange gedauert, bis mein Vater wieder eine Frau kennenlernte. Sie zogen schnell zusammen, heirateten und glaube mir, sie hasst mich noch viel mehr.« Mit Tränen in den Augen fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, warum mich alle so hassen ... Warum mich niemand lieb hat. Benny, bin ich wirklich so schlimm?«

»Ich hab dich lieb, sehr sogar!« Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie spürte seine Wärme und Liebe. Sie brauchte dieses Gefühl und sie brauchte ihn. Doch fühlte sich ihr Herz schwer an. Sie vermisste ihren besten Freund.

Er wischte ihre Tränen mit den Daumen weg und sah ihr tief in die Augen.

»Muss ich mich noch entscheiden? Nick war der einzige Freund, den ich in dieser Zeit hatte und er war der Einzige gewesen, der mir half, nicht den Boden zu verlieren. Ich dachte früher oft an Selbstmord. Ich wusste weder ein noch aus. Zum Glück hielt er mich mit seiner Freundschaft davon ab.«

»Nein, du brauchst dich nicht entscheiden. Entschuldige das ich das von dir verlangte.« Er gab ihr einen Kuss. »Danke, dass du es mir gesagt hast.«


Benny fragte Cassandra, ob sie nicht die Nacht bei ihm verbringen möchte, doch sie musste für sich sein.

Eigentlich wäre sie sehr gerne bei ihrem Freund geblieben. Sie strich durch seine sandfarbenen Haare und blickte ihm tief in seine blauen Augen. Langsam standen sie auf und Benny brachte sie noch zur Tür. Es war spät und eigentlich würde er sie am liebsten nach Hause begleiten, doch sie lehnte ab. An der Haustür umarmten und küssten sie sich kurz, bevor das Mädchen in der beginnenden Dunkelheit verschwand.

Cassie wusste, wenn sie nicht nach Hause ginge, würde es Ärger geben. Sie durfte sich nicht ›rumtreiben‹.

1 Ansicht0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Leseprobe aus "Lydia"

Lydia Zerplatzte Träume Janine Zachariae Für alle, die sich verloren fühlen, und erst noch einen Weg finden müssen. Für jene, die ihn bereits gefunden haben. Bleibt euch selber treu und hört auf euer

Leseprobe zu "Das Geheimnis des Stiftes"

Prolog Name ... Ja, und genau da fängt es schon an. Wie soll ich mich nur nennen? Mir schwebt Marinette vor. Klingt doch schön, oder? Schnell muss ich nachschauen, in welcher Form dieser Name bereits

bottom of page