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Leseprobe zu "Das Geheimnis des Stiftes"

Prolog



Name ...


Ja, und genau da fängt es schon an. Wie soll ich mich nur nennen?

Mir schwebt Marinette vor. Klingt doch schön, oder? Schnell muss ich nachschauen, in welcher Form dieser Name bereits vorhanden ist ...


Natürlich tauchen jede Menge Assoziationen mit der Zeichentrickfigur auf.


*Ladybug und Catnoir* ist auch eine schöne Serie über zwei Helden, die Paris vor dem bösen ›Hawk Moth‹ beschützen. In Wahrheit handelt es sich um die Schüler Marinette und Adrien, die durch ein Miraculous

(eine Art Talisman)

ihre Fähigkeiten erhalten.

Sehr süß gemacht, muss ich zugeben. Aber das bleibt unter uns, schließlich bin ich zu alt für so eine Animationsserie.


Instagram ist mir immer noch ein Rätsel, aber ich muss mich dem langsam beugen. Auch, wenn ich große Angst vor diesem ganzen Unbekannten habe. Aber für das, was ich vorhabe, und den nötigen Raum benötige, muss ich mich mit dem vertraut machen. Allerdings nur unter einem Pseudonym. Wenn jemand meinen richtigen Namen erfahren würde, wäre das eine Katastrophe.

Nicht, weil ich gesucht werde oder so. Nein, mich würde niemand suchen. Sondern, weil ich nicht zum Gespött aller dargestellt werden will.

Was möchte ich auf meinem Account zeigen?

In erster Linie Bücher.

Ich habe jede Menge davon im Bücherregal und vielleicht wäre es eine gute Möglichkeit, mit anderen darüber zu sprechen. Denn sonst redet niemand mit mir über Literatur. Oder allgemein.

Seit ich denken kann, hab ich das Gefühl, unsichtbar zu sein. Natürlich nicht wörtlich betrachtet, ich bin ein Mädchen aus Fleisch und Blut und hab keine Superkräfte. Alles an mir ist nur sehr unscheinbar. Ganz gleich wie sehr ich mich auch bemüht habe, ich bin einfach übergangen worden.


Sogar in der Schule, besonders da eigentlich. Nicht einmal meine Lehrer haben mich wahrgenommen. Ich bin sooft weinend nach Hause gekommen, habe mich in meinem Zimmer versteckt und konnte es einfach nicht verstehen.

Jeden Morgen, wenn die erste Unterrichtsstunde angebrochen war, wurden wir Schüler namentlich aufgerufen und jeder bestätigte, ob man da ist oder eben nicht. Doch jedes Mal, jeden Tag über so viele Jahre, stockten die Lehrer bei meinem Namen, rümpften mit der Nase und blickten sich fragend um. Ich hob, wie jeder andere auch, meine Hand und oft folgte noch ein »Anwesend«. Sie aber blickten förmlich durch mich hindurch. Ich hatte einmal so viele fehlende Tage im Klassenbuch stehen, dass es ein Wunder war, nicht sitzen geblieben zu sein. Aber ich hab nur dann gefehlt, wenn ich wirklich krank war. Was ich mir so gut wie nie erlaubte. Denn je länger ich vom Unterricht ferngeblieben wäre, desto weniger würde man sich an mich erinnern.

Meine Mutter schüttelte oft missbilligend und unfassbar verwirrt oder wütend den Kopf, wenn sie von einem Elternabend nach Hause gekommen war und die Lehrer nicht einmal wussten, wie ich ausgesehen habe oder wo ich saß.

Da ich allerdings keinen Ärger haben wollte, dokumentierte ich jeden Schultag ganz präzise. Als das erste Zeugnis mit den vielen unentschuldigten Fehltagen eintrudelte und ich meiner Mutter hoch und heilig geschworen habe, dass ich keinen Tag davon fehlte, beschloss ich, jeden Morgen zur Direktorin zu gehen, und zeigte ihr meinen Schülerausweis. Sie sollte es eintragen, falls der Lehrer es nicht hinbekommen würde.

Dass ich auch schlechte Noten in Mitarbeit bekommen habe, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen. Ich hab so hart gearbeitet, so viel gelernt, stundenlang, oft bis tief in die Nacht hinein, dass ich alles andere gut ausbügeln konnte und ich war eine hervorragende Schülerin, auch wenn ich nicht in jedem Fach glänzte, aber niemand ist überall perfekt.


*


Manchmal besucht mich die Direktorin oder einer meiner Lehrer in meinen Träumen. Sogar die Schule, die so eindrucksvoll und doch beängstigend wirkte, erscheint regelmäßig. Das bräunliche Gebäude, mit dem roten Dach, welches spitz zulief. Die Fenster waren mit grünen Fensterläden ausgestattet und ich hatte manchmal wirklich das Gefühl, ich sei in einem holländischen oder irischen Dorf, da die Schule so gar nicht zur restlichen Umgebung gepasst hat. Sie wirkte auf mich wie aus einem Märchen. Ringsum hatte man Bäume und Pflanzen gesetzt, die eine Grenze zur Straße bildeten.

In meinen Träumen werde ich manchmal von ihnen angegriffen, wenn ich aus der Schule fliehen will. Sie halten mich auf und dann kommen die Schüler und schmeißen mit Steinen nach mir, die aber durch mich hindurch gleiten, als sei ich ein Geist. Gelegentlich sitze ich in einem Klassenraum, welches aber immer enger wird.

Alles verschwimmt dann um mich herum und ich sehe nur noch die Wände, die unaufhaltsam auf mich zukommen. Bevor ich aber zerquetscht werde, wache ich jedes Mal auf.


*

Irgendwie aber schien es, als wäre meine Direktorin genau für diesen Ort gemacht. Sie war um die fünfzig, hatte bereits graue Haare, eine füllige Figur und wirkte doch jünger als so manch ein Lehrer. Sie versprühte eine Art Autorität, wie ich sie so noch nie gesehen hatte. Ich mochte sie und sie gab mir eine Chance, jedenfalls hatte sie mir nie das Gefühl gegeben, ich sei nicht erwünscht - morgens um halb acht. Ehrlich gesagt aber glaube ich, hatte sie nur eine Notiz auf ihrem Schreibtisch liegen, die mich jeden Morgen aufs Neue ankündigte. Denn ich hatte manchmal das Gefühl, sie würde erst einmal auf ein Blatt schauen, ehe sie mich wahrnahm. Aber selbst wenn es so gewesen war, meine Illusion konnte sie auch damit nicht zerstören.

Denn für diese eine Minute am Tag hatte ich wirklich das Gefühl, da zu sein.

Während mich die Lehrer behandelten, als sei ich komplett im Weg, wenn ich einmal eine Frage hatte.

Ich war unendlich froh, die Schule hinter mir gelassen zu haben. Denn es war sehr anstrengend gewesen unsichtbar zu sein und doch scheint es mich noch immer zu verfolgen.

Allerdings war nicht alles schlecht gewesen, denn ich hatte genug Zeit und auch Inspiration, um ein Buch zu schreiben.

Dadurch war ich in der Lage an einem Wettbewerb teilzunehmen.


Junge Autoren zwischen 14 und 20 Jahre

1. Platz:

Dein Buch wird von uns verlegt.

2. - 10. Platz

Buchpaket im Wert von 50 Euro


Thema:

Superhelden 1. »Herzlichen Glückwunsch, Du hast gewonnen!«



Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber ich hatte tatsächlich gewonnen und mein Buch wurde zum Sieger gekürt. Der Vertrag flatterte kurz vor den Sommerferien zu mir, eigentlich zu meiner Tante, aber das ist ja ähnlich. Ich fühlte mich wie ein Zauberer, der seinen ersten Brief aus einer berühmten Zauberschule erhalten hatte.


*


»Herzlichen Glückwunsch Marinette Strike, wir freuen uns, Dir mitteilen zu können, dass Du bei unserem Gewinnspiel den ersten Platz belegt hast.

Es haben hunderte von junge Menschen mitgemacht, weshalb wir etwas länger zum Auswerten benötigt hatten, als ursprünglich beabsichtigt.

Dein Buch wird noch vor der ›Frankfurter Buchmesse‹ veröffentlicht.

Es wird eine offizielle Preisverleihung geben, zu der wir Dir die nötigen Daten in diesem Schreiben beifügen.

Fahrkarte, Ticket und VIP Ausweis wirst Du vorfinden.

Liebe Marinette, wir haben uns sehr über Deine Geschichte gefreut und wünschen Dir viel Erfolg damit.

Dein Buch ›Das mysteriöse Mädchen: Die unsichtbare Retterin‹ wird als ›Jugendbuch des Sommers‹ im Juni erscheinen.

*

Was uns aufgefallen ist: Du bist nicht im Social Media zu finden.

Vielleicht möchtest Du das ja ändern, so kannst Du Dein Buch ebenfalls etwas promoten.

Wenn Du Hilfe benötigst oder Fragen hast, kannst Du Dich jeder Zeit an unseren Fachmann für Social Media wenden. Eine Visitenkarte ist ebenfalls im Paket zu finden.

Nun wünsche ich Dir ganz viel Spaß und Freude an Deinem ersten Buch.

Alles Liebe wünscht Dir,

Will.«


*


Nachdem ich diesen Brief gelesen habe, musste ich mir eingestehen, nicht mehr hinterm Mond leben zu können. Das nötige Mobiltelefon hatte ich, warum also nicht tatsächlich einen solchen Schritt wagen?

Natürlich ist Strike nicht mein richtiger Nachname. Meine Tante heißt so: Hayley Strike.

Ich konnte nicht riskieren, dass meine Mutter etwas davon erfährt oder der Postbote es wieder mitnimmt, da nicht mein richtiger Name darauf zu lesen ist.

Meiner Tante hab ich erzählt, dass ich auf eine Überraschung für meine Mutter warte und es deshalb nicht zu uns geschickt werden soll/darf. Mir ist durchaus bewusst, dass man nicht lügen darf, aber in diesem Fall hatte ich keine andere Wahl und ich weiß, dass es nur eine Ausrede ist, aber ihr werdet noch herausfinden, wieso ich das machen musste.

Ich mag Hayley, sie ist eine tolle Tante, auch wenn sich unsere Ansichten manchmal unterscheiden. Es gab schon Zeiten, da bin ich verweint zu ihr und hab darüber gesprochen, dass ich einfach nicht wahrgenommen werde und das es an meinem Aussehen liegen würde.

Sie aber sagte jedes Mal: »Das ist besser so, glaube mir. Du bist ein hübsches Mädchen, aber ich bin froh, dass du so ein stilles und unscheinbares Leben führst.«

Trotz all meiner Bemühungen und Argumentation ließ sie sich nicht von diesem Satz abbringen, weshalb ich es mittlerweile nicht mehr anspreche. Es hat einfach keinen Sinn.

Deshalb konnte ich ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen, oder mein Buch zeigen. Sie hätte es nicht verstanden. Sie hätte die Freude nicht mit mir geteilt, sondern es eher als nichtig betrachtet. Was es aber nicht ist. Ich habe ein Buch geschrieben und das vor meinem 19. Lebensjahr. Das Preisausschreiben fand bereits 2016 statt, als ich 18 war. Einsendeschluss war im Dezember.

Hayley ist die Schwester meines Vaters, kurz bevor er verschwunden war, ist sie in unsere Nähe gezogen.


Sicherlich seid ihr über das Wort ›verschwunden‹ gestolpert, oder? Aber es stimmt: Mein Dad ist verschwunden.

Nicht zu finden.

Spurlos.

Wieso, weshalb, warum weiß ich wirklich nicht. Aber plötzlich war er nicht mehr da. Einfach so. 2. Der Tag, an dem der Vater verschwunden ist



Ich war zehn Jahre alt und weiß noch alles ganz genau.

Am 14. Oktober 2007 hatte ich Geburtstag und mein Vater schenkte mir einen unvergesslichen Tag. Obwohl er normalerweise wenig Zeit hatte, verbrachten wir den 14.10. immer zusammen. Das war unsere Tradition seit meinem ersten Geburtstag, was viele Fotos bestätigten. An diesem Tag unternahmen wir etwas ganz Besonderes und Einmaliges. Nur wir zwei. Meine Mutter hatte mich sonst immer, da gehörte dieser Tag nur ihm.

An diesem Sonntag, im Jahr 2007, machten wir uns bereits um vier Uhr am Morgen los und fuhren in eine andere Stadt, weit weg von unserer.

Ich war total aufgeregt, weil ich nicht wusste, wohin es dieses Mal gehen würde, doch als wir schließlich Frankfurt passierten, hatte ich bereits eine Ahnung.


Es war ein Traum. Meine erste Buchmesse überhaupt und das mit meinem Vater zusammen. Er wollte mich überraschen und das ist ihm geglückt. Wir suchten uns einen Parkplatz nicht weit vom Messegelände, da wir früh dran waren, war es kein Problem und er überreichte mir einen Plan mit allen Veranstaltungen und Ausstellern.

»Wann hattest du Zeit gehabt, dir all das zurechtzulegen?«, fragte ich ihn verblüfft und er zuckte mit den Achseln, zwinkerte mir zu und sagte, ganz ernst:

»Für dich, mein Schatz, nehme ich mir immer Zeit, auch wenn ich nicht so oft da bin oder da sein werde, so bist du ständig in meinen Gedanken.«

Ich schluckte und unterdrückte die Tränen, die sich ankündigten und studierte den Plan.

Er hatte alles markiert, was mir gefallen könnte, und zwischenzeitlich war genug Zeit vorhanden, um uns einfach umzuschauen. Ich schwebte im achten Bücherhimmel, falls es den gibt. Wir blieben fast bis zum frühen Abend und mein Vater kaufte mir so unfassbar viele Bücher, dass ich für ein halbes Jahr Lesestoff hatte. Hinterher waren wir Essen und im Kino. Es war der schönste Tag meines Lebens. Nicht nur bis dahin, sondern bis heute.

Ich schlief schließlich im Auto ein, und als ich am nächsten Morgen wach wurde, hörte ich plötzlich meine Mutter laut telefonieren. Es waren Herbstferien und doch war ich relativ früh aufgewacht. Ich schlich aus meinem Zimmer und versteckte mich hinter einer Tür.

»Hayley, ich weiß nicht, wo er ist. Ich hab schon überall angerufen. Er war gestern mit Melanie unterwegs, ... ja, wie immer. Irgendwann muss er wieder aufgestanden sein. NEIN, ich weiß nicht, wo er hin ist. Deshalb ruf ich dich doch an. Er hatte nichts erzählt. Wir wollten heute etwas Schönes unternehmen, da Mel Ferien und Paul noch ein paar Tage frei hat. Natürlich hab ich im Büro nachgeschaut ...«

Ich rutschte an der Wand nach unten, winkelte meine Beine an, umklammerte sie und vergrub meinen Kopf in meinen Armen. Kurz danach wurde aufgelegt und meine Mutter fand mich. Sie sagte nichts, sondern setzte sich zu mir und hielt mich fest.

Es war nicht das erste Mal, dass er plötzlich verschwunden war.

Aber noch nie hörte sich meine Mutter so hysterisch an.

Später, als sie weitere Telefonate geführt hatte, ging ich in Dads Büro und hab mich etwas umgeschaut.

Als Erstes fiel mir auf, dass die Tür aufgebrochen wurde und der Schlüssel im Inneren noch steckte. Es gibt nur ein kleines Fenster in diesem Raum, welches mit einer Leiter zu erreichen ist. Öffnen konnte mein Vater es, wenn er einen Hebel betätigte.

Doch es war so winzig, dass nicht mal ein Schlangenmensch dadurch gepasst hätte.

Mein Vater war ein Riese (okay, ich war noch sehr klein, in Wahrheit war er wohl über 1.80 Meter), schlank und hatte Schuhgröße 46. Seine Hausschuhe standen vor dem Zimmer, was ebenfalls sehr seltsam war. Warum sollte er Straßenschuhe in seinem Büro anhaben, wenn er doch von zu Hause aus arbeitete?

Es wäre einfach unmöglich gewesen, aus diesem Zimmer zu verschwinden, und warum sollte er das machen?

Auf seinem Schreibtisch sah alles ganz Normal aus. Nichts deutete auf einen Zettel oder Ähnliches hin.

Eine Sache aber zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Stift, der aussah, als wäre er benutzt worden und doch wies nichts daraufhin. Wenn er eine Nachricht hinterlassen hätte - was er sonst immer gemacht hatte - wäre meine Mutter nicht so hysterisch gewesen.



Wie konnte jemand aus einem verschlossenen Raum verschwinden?


Danach war nichts mehr so, wie wir es kannten. Je länger mein Vater verschwunden blieb, desto mehr zog sich meine Mutter zurück. Die Ferien waren vorüber und ich kümmerte mich nach der Schule um den Haushalt, da sie dazu nicht in der Lage war. Das Geld wurde ebenfalls knapp und ich fragte in dem Blumenladen gegenüber unserer Wohnung, ob ich dort aushelfen könnte. Ich erklärte Frau Hops alles und sie nickte traurig. Konnte mich allerdings nicht einstellen, da ich noch zu jung war. Aber hin und wieder könnte ich ihr helfen, wenn ich möchte und immer zu ihr kommen, wenn ich wollte.


3. Der Blumenladen



Fünf Jahre lang ging ich jeden Tag nach der Schule zu Frau Hops und half ihr. Es war nur ein Vorwand, dass ich Geld bräuchte. Denn eigentlich wollte ich Gesellschaft, da ich nicht in die deprimierende Wohnung zurückkonnte. Meine Mutter suchte sich wieder Arbeit und schuftete in einem Dreischichtsystem im Krankenhaus. Sie war im Grunde sowieso nie da und wenn, verzog sie sich schnell in ihr Schlafzimmer.

Irgendwann schaute ich mich in ihrem Zimmer um. Ja, ich weiß, das macht man nicht. Aber ich war verzweifelt. Ich musste wissen, was sie da machte.


Sie suchte nach meinem Vater.


Sie hatte nie aufgehört, nach ihm zu suchen, und das gab mir den Rest. Ein kompletter Ordner lag vor mir, vollgestopft mit Belegen, Dokumenten und Bilder, die eine Person zeigten, die meinem Vater ähnelten, aber er doch nicht war oder sein konnte.

Ich blätterte die Seiten durch, wusste, ich habe viel Zeit und stoppte bei einem Foto, was sehr alt aussah. Es war datiert, aber das Jahr …

Was sollte das Bedeuten?

Warum hatte meine Mutter ein Bild aufgehoben und eingeklebt, welches eine Zeichnung darstellte. Es war nicht einmal eine Fotografie. Na gut, dank Google wusste ich, dass das erste bekannte Foto wohl 1826 entstanden war. Aber die Zeichnung, die scheinbar in einer Zeitung vorgekommen war, stammte von 1714. Mit meinem Handy fotografierte ich alles ab und schaute es mir stundenlang an.


*


Was wusste meine Mutter?

Was verheimlichte sie mir?


*


Frau Hops war eine herzensgute alte Dame, die mir sehr viel über sich erzählte und ein beeindruckendes Leben hatte.

Meine Mutter kannte Frau Hops ebenfalls und sie war ihr dankbar, dass ich zu ihr durfte. Die zwei sprachen oft stundenlang miteinander und scheinbar konnte nur diese liebe alte Frau zu ihr durchdringen.


*


Vor fünf Jahren verreiste Frau Hops und bat mich für sie einzuspringen, sofern ich es zeitlich einrichten könnte. Es war nichts Ungewöhnliches, denn oft sprang ich für sie ein, wenn sie zum Arzt musste oder einen anderen Termin wahrnehmen wollte. Sie vertraute mir und ich war unendlich dankbar, ihr helfen zu können, da sie über viele Jahre hinweg wie eine Großmutter für mich war. Ich war zwar erst fünfzehn, aber kannte mich gut im Laden aus. Es sollte nur für ein paar Tage sein und ich hatte gerade Sommerferien, da war es für mich eine willkommene Abwechslung. Doch die Tage verstrichen, und ich hatte noch nichts von Frau Hops gehört.


Es war ein typischer Mittwochnachmittag und der Blumenladen, den ich sehr ordentlich hielt und jede Blume so pflegte, wie ich es gelernt hatte, war mit vielen unterschiedlichen Kunden besucht.

Kurz vor Ladenschluss sah ich einen Mann, der um die 25 sein musste und vor der Ecke mit dem Trauergesteck angehalten hatte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich leise, doch er zuckte trotzdem etwas zusammen. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Ist nicht ...«, er sah zu mir und schien zu überlegen, ob er mich duzen oder siezen sollte, »... deine Schuld«, entschied er sich schließlich, was mir nichts ausmachte, denn ich bin es gewohnt gewesen. Es sprach trotzdem für ihn, dass er erst einmal darüber nachdachte. »Meine Großmutter ist vor ein paar Tagen ...«, er brach den Satz ab und ich führte ihn zu einer Bank, auf der er sich setzen sollte.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder ein Glas Wasser anbieten? Danach können wir überlegen, was Ihrer Großmutter gefallen hätte.«

Er lächelte und setzte sich schließlich hin. »Ein Tee wäre gut, danke.« Ich nickte und ging hinter die Kasse, dort hatten wir einen Wasserkocher und jede Menge Teesorten versteckt. Ich überlegte, welcher am Besten geeignet wäre, und beobachtete ihn, während das Wasser langsam kochte. Er trug eine dunkle Jeans und ein schwarzes Langarmshirt, sowie schwarze Turnschuhe und wirkte sehr lässig und doch angespannt. Er fuhr sich mit seiner rechten Hand durch sein volles dunkles Haar und schien über irgendwas nachzudenken. Ich glaubte, als ich ihn damals dort sitzen sah, dass er eigentlich andere Farben bevorzugte.

Das Wasser kochte und ich bereitete ihm einen Tee mit Kamillenblüten zu. Dieser würde ihn etwas Ruhe schenken, ohne ihn schläfrig zu machen. Hoffte ich zumindest. Er nahm mir die Tasse dankend ab und ich ließ ihn erst einmal alleine und kümmerte mich um weitere Kunden. Nach einigen Minuten stand er auf, lächelte mich an und ich nahm ihm die Tasse wieder ab und verbarg sie hinter der Kasse. Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben und wirkte mit einem Mal sehr unsicher.

»Erzählen Sie mir doch etwas über Ihre Großmutter«, schlug ich vor und suchte in der Zwischenzeit nach etwas Passendem. Zuerst schien er nicht zu wissen, wieso ich so vorgehe, aber das hatte ich alles von Frau Hops gelernt.

Auch sie unterhielt sich gerne mit ihren Kunden und erstellte so das beste Gesteck, das man sich vorstellen konnte. Sie war eine wahre Künstlerin und ich staunte immer wieder über das, was sie erschaffen hatte. Sie sollte stolz auf mich sein, wenn sie zurück ist und natürlich keine Beschwerden hören müssen. Das war ich ihr schuldig. Also hörte ich mir die Männer und Frauen, Kinder und Großeltern, Menschen mit körperlicher oder geistiger Einschränkung an und versuchte für sie da zu sein. Manche kommen hier her, weil sie jemandem eine Freude machen oder sich entschuldigen wollen. Andere möchten sich selbst etwas Gutes tun. Manchmal kommen Kinder in den Laden, die ihrer Mama eine kleine Freude machen möchten oder weil sie sich in einen Kindergartenfreund verliebt haben. Dann stehen sie vor den ganzen Blumen, staunen und zeigen gezielt auf eine ganz Bestimmte. Sie zücken ihr eigenes Taschengeld, obwohl ich mir immer wieder sicher bin, dass die Mutter oder der Vater es auch zahlen würden. Denn sie alle strahlen etwas sehr Warmes und Stolzes aus.

Noch während dieser Mann von seiner Großmutter erzählt hatte, griff ich nach einem schlichten, eleganten Gesteck, welches gut passen würde. Er hatte mir erzählt, dass das eigentlich eine extra Firma übernimmt, aber er wollte selbst etwas besorgen. Er betrachtete das, was ich ausgesucht hatte und zog die Augenbrauen zusammen. »Es fehlt noch was, einen Augenblick bitte«, sagte ich und verschwand kurz hinten im Lager.

Ein Ort voller Dekoration, Blumen und Pflanzen. Im Lager geschieht und geschah die eigentliche Magie.

Dieser Blumenladen hat mich vom ersten Moment an verzaubert und viele Kunden ebenfalls.

Wenn Frau Hops im Lager etwas kreierte, dann schien es wirklich, als würde sie zaubern, so magisch wirkte es.

Oftmals verwendete sie auch Reste.

Zeug, was eigentlich in den Müll sollte, und erschuf einzig mit der Kombination verschiedener Dinge, etwas vollkommen Faszinierendes.


Ich kam mit einer zierlichen Elfe zurück, die ein Herz in der einen und eine weiße Rose in der anderen Hand hielt. Die Elfe selbst war in einem schlichten Beige gehalten. Ich setzte sie in die Mitte des Gestecks und blickte zu dem Mann auf.

»Das ist bezaubernd. Danke«, sagte er und ich glaubte, eine Träne wahrgenommen zu haben. Er atmete tief durch und ging direkt zur Kasse, zahlte und bedankte sich noch einmal.

»Ihre Großmutter«, sagte ich, bevor er die Türklinke drückte, »kann stolz auf Sie sein.« Irritiert blickte er mich an und lächelte zaghaft. Warum ich das gesagt habe, wusste ich nicht. Normalerweise sagt man so etwas wie »Mein Beileid« oder »Das tut mir sehr leid«, aber manchmal genügen solche Floskeln einfach nicht und man braucht andere Worte des Trosts.

Lange konnte ich nicht darüber nachdenken, denn eine verweinte Frau betrat den Laden und blickte sich verwirrt um.

»Ist Frau Hops denn nicht da?«, fragte sie und zog ihre Nase dabei etwas hoch.

»Tut mir leid, sie ist verreist. Aber ich kann auch gut zuhören.«

Sie betrachtete mich etwas abschätzig. Meine 1.60 Meter (mittlerweile bin ich acht Zentimeter größer) sprachen nicht sonderlich für mich. Meine schulterlangen schokoladenbraunen Haare hatte ich an diesem Tag nicht so gut unter Kontrolle bringen können, auch wenn sie glatt sind, so kann ich sie manchmal einfach nicht in Form halten und nicht mal ein Zopf hilft dann.

Die Luftfeuchtigkeit im Laden hatte etwas damit zu tun.

Sehr lange habe ich nach einer wirklich guten Pflege gesucht. Mittlerweile macht es meinem Haar nichts mehr aus.

Ich reichte der jungen Frau erst einmal eine Packung Taschentücher und führte sie zur Bank. Auch ihr bot ich Tee an, dieses Mal aber Melisse und hörte ihr geduldig zu, während sie doch anfing zu sprechen.

Unter Tränen erzählte sie: »Meine Großmutter ist vor wenigen Tagen verstorben, mein Job ist weg und mein Freund hat mich verlassen und ich musste ausziehen.« Sie schnäuzte ins Taschentuch und ich nahm an, dass sie mit dem jungen Mann von vorhin verwandt sein musste. »Meine ganze Welt ist innerhalb weniger Tagen zerbrochen.«

Schon wieder konnte sie keinen Job oder Freund längere Zeit halten und sie glaubte, ihre Großmutter enttäuscht zu haben.

»Was möchten Sie?«, fragte ich, nachdem sie geendet hatte. Irritiert blickte sie zu mir. »Sie haben mir erzählt, dass Sie immer nur Jobs haben, damit sie Geld verdienen können - was natürlich auch wichtig ist … - aber wenn Sie die Wahl hätten, was würden Sie gerne arbeiten?«

»Darüber hab ich noch nie nachgedacht«, sagte sie ehrlich und doch nachdenklich. Die junge Frau hatte langes blondes Haar, trug ein fliederfarbenes Kostüm, was sie älter aussehen ließ und schwarze Pumps. Sie schien sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen und ich denke, sie passte sich nur ihrer Umgebung an. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr langes Haar und ich konnte ein kleines Tattoo hinter ihrem rechten Ohr erkennen, was meine Einschätzung bestätigte.

»Wo wohnen Sie denn, nachdem Sie aus der Wohnung Ihres Freundes gezogen sind?«

»Bei meinem Bruder«, gab sie zu. »Er hat so viel um die Ohren und doch ist er für mich da. Er kümmert sich um die Trauerfeier, musst du wissen und hat dazu noch einen schwierigen Job und … ach, ich weiß nicht mal, wann der

Junge überhaupt mal schläft.

Er mag Pflanzen und Blumen und ich möchte ihm etwas Besonderes schenken.«

Ich wollte gerade eine bestimmte Blume ansteuern, als mir bewusst wurde, dass sie wahrscheinlich nicht so viel Geld haben würde, nach allem, was ihr passiert war. Ich musste kurz innehalten und nachdenken.

»Warten Sie kurz, ich hab, glaube ich, die richtige Blume für Sie«, sagte ich und ging ins Lager.

»Eine Hyazinthe?«, fragte sie kurz darauf.

Am Vormittag hatte ich etwas neu arrangiert und mich ein wenig ausgetobt, aber traute mich nicht, sie in den Laden zu stellen. Sie war chaotisch und doch strahlte sie etwas ungewöhnlich Beruhigendes aus. Ich benutzte verschiedene Farben, die alle aber irgendwie stimmig wirkten, und machte ein paar weiße Steine und schwarze Kugeln dazu. In die Erde hatte ich einige Kieselsteine gelegt, damit sie locker blieb und keine Staunässe entstehen konnte.

»Ich weiß, was Sie denken. Aber die Hyazinthe, das hatte mir Frau Hops erzählt, steht für Vertrauen und Wohlwollen«, sagte ich schulterzuckend. »Ich würde Sie Ihnen gerne schenken.«

»Schenken? Wieso? Weil ich keinen Job mehr habe?«, ihre Stimme wurde etwas heller und sie schien empört. Oje.

»Sie wollen Ihrem Bruder eine Freude machen, oder?« Sie nickte. »Na, gut … Wenn ich ehrlich bin … Ich hab das heute Morgen selbst zusammengesteckt und na ja, ich bin mir nicht sicher, ob die Ladeninhaberin, obwohl sie die wundervollste Frau ist, die ich kenne, das so gut findet. Ich kann es hier nicht mehr verkaufen, aber irgendwie fände ich es schade, wenn ich es zerstören müsste. Verstehen Sie?« Irritiert nickte sie erneut. »Vermeiden Sie Staunässe und sie mag es sonnig. Ansonsten nicht austrocknen lassen.«

Ich drückte ihr den Topf in die Hand und lächelte ihr freundlich zu.

»Sie sieht sehr schön aus. Und ich darf sie wirklich einfach mitnehmen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Frau Hops hätte nichts dagegen. Sie macht es selbst gelegentlich, wenn niemand hinschaut und nur bei Kunden, die eine Traurigkeit ausstrahlen, die wirklich erdrückend wirkt. Glauben Sie nicht, ich würde das bei jedem machen.

Aber ich denke, Sie können eine kleine Aufmunterung gut gebrauchen. Es ist nicht alles schlecht, wissen Sie?

Manchmal werden wir von den Menschen um uns herum überrascht.« Erneut liefen ihr die Tränen, dabei waren sie gerade dabei zu trocknen. »Hab ich was Falsches gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin mir sicher, Frau Hops ist sehr stolz auf dich.«

»Sie kennen sie gut?«

»Ja, sie … ich bin schon als Kind gerne hier gewesen und obwohl ich weiter weg wohne, komme ich trotzdem ab und zu her.«

»Ja, sie hat etwas, was man nicht so leicht vergisst, oder? Eine Ausstrahlung und Art, die jeden im Raum sofort für sich gewinnen lässt und alles zum Strahlen bringt.«

Nachdem ich das gesagt habe, ging die Tür auf und meine Mutter kam herein.

»Liebling, ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich besorgt.

»Ja, natürlich Mum. Wieso?«

»Es ist schon nach halb acht. Ich hab mir Sorgen gemacht.« Erschrocken drehten wir uns gleichzeitig zur Wanduhr hinter der Kasse um.

»Tut mir leid, ich mache hier noch schnell fertig, dann komme ich.«

»Gut, ich sehe schon, du hast alles im Griff. Abendessen ist dann fertig«, sagte sie und ging wieder raus. Unsere Wohnung befand sich immer noch genau gegenüber dem Blumenladen.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht so lange aufhalten.«

»Haben Sie nicht. Wenn man sich nicht mehr Zeit für seine Mitmenschen nehmen kann, dann verliert man sich am Ende selbst irgendwann.«

Sie lächelte, hielt den Topf mit der einen und drückte meinen Arm mit der anderen Hand.

»Danke, ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Wissen Sie, vielleicht überlegen Sie sich einfach mal ganz genau, was sie wirklich wollen. Sie können doch bestimmt eine Weile bei ihrem Bruder bleiben, oder? Vielleicht finden Sie das, was Sie suchen.«

Erstaunt blickte sie mich an.

»Wie alt bist du?«

»15. Tut mir leid, ich rede manchmal seltsames Zeug.«

»Nein, das tust du nicht. Im Gegenteil.«

»Danke.« Ich lächelte.


Aber ich rede wirklich manchmal zu viel, was mir immer wieder auffällt. Sie nickte mir noch einmal zu, während ich ihr einen schönen Abend wünschte. Sie lächelte, bevor sie in der Dämmerung verschwand. Es war ein milder Sommerabend. Ich sog kurz den Duft der ganzen Pflanzen und Blumen ein, bevor ich zur Kasse ging und meine Abrechnung machte. Anschließend ging ich noch einmal alles durch und besprühte die bunte Pracht mit Wasser, andere bekamen etwas mehr Flüssigkeit. Präzise nach Vorschrift, denn Frau Hops hatte mir alles genau aufgeschrieben und ich studierte diese Liste so lange, bis ich sie auswendig kannte. Nachdem ich kurz durchgefegt hatte, konnte ich das Licht löschen, die Alarmanlage einschalten und die Tür verschließen.

Die Abendluft tat gut und obwohl es nur ein kurzer Weg war, genoss ich es doch.


*


Am nächsten Morgen klingelte es sehr früh an unserer Tür. Ich hatte gerade Kaffee gekocht, während meine Mutter noch im Bad war. Um diese Uhrzeit hatten wir nie Besuch, deshalb brauchte ich einen Moment, um zu realisieren, dass jemand draußen stehen musste.

Irritiert öffnete ich und blickte erstaunt in zwei Gesichter, die ich erst am Tag zuvor im Laden gesehen hatte.

Wahrscheinlich ahnt ihr es schon.

»Guten Morgen.« Perplex starrte ich sie an und hätte mich beinahe verschluckt. Sie erwiderten meinen Gruß. Da ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte, bot ich ihnen Kaffee an. Sie schienen irgendwas zu wollen.

»Danke, sehr freundlich. Ist deine Mutter da?«

»Ja, sie … ah, da ist sie.«

»Oh, wir haben Besuch? Moment, Sie waren doch gestern im Blumenladen, nachdem meine Tochter schon längst Feierabend gehabt hätte.«

»Guten Morgen, Frau Note, ja, genau. Sehr erfreut, ich bin Emily und das ist mein Bruder Colin.«

»Guten Morgen«, sagte meine Mutter ebenfalls irritiert.

»Setzen Sie sich doch, der Kaffee ist fertig. Milch und

Zucker stehen schon auf dem Tisch«, sagte ich und goss die schwarze Brühe in Tassen, reichte sie ihnen und wir alle nahmen am Tresen in der Küche platz.

Scheinbar wussten sie nicht, was sie sagen sollten, denn eine beklemmende Stille trat ein.

Dann fiel bei mir der Groschen.

»Sie beide haben gestern erzählt, dass Ihre Großmutter verstorben sei ...«, sagte ich und spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals ausbreiten wollte. Ich schluckte mühevoll. »Sie haben von ...«, meine Stimme versagte und ich sah an ihren Blicken, das ich Recht hatte. »Entschuldigt mich bitte einen Moment«, stieß ich hervor und ignorierte die Höflichkeitsformeln für den Augenblick.

Ich stand auf, rannte aus dem Zimmer und schloss mich kurz im Bad ein. Ich musste mich etwas sammeln. Frau Hops. Sie haben von der lieben alten Frau Hops gesprochen. Ich schnäuzte meine Nase und blickte in den Spiegel, wischte die Tränen weg und lächelte mich kurz an. In den Spiegel zu blicken war schon immer eine Qual für mich.


*


Wenn ich lange genug hinein starre, glaube ich wirklich zu verschwinden, so, wie mich immer alle wahrnehmen.


*


Ich strich mein T-Shirt glatt und ging wieder nach draußen.

»Das tut mir sehr leid«, sagte ich mit einer gefassten Stimme. »Frau Hops war eine wirklich liebe Frau und … Ich werde ihr auf ewig dankbar sein für alles, was sie für mich gemacht hat.«

Die Geschwister nickten und lächelten kurz.

»Sie war krank«, begann schließlich Colin. »Schon lange.

Wir wussten es und konnten uns so etwas besser darauf einstellen.«

»Sie wollte bei ihrer Familie sein, wenn sie ...«, schlussfolgerte ich.

»Ja, und wir haben es ihr so angenehm wie möglich gemacht.«

Details konnte ich keine ertragen, deshalb fragte ich, ob ich etwas machen könnte. Vielleicht im Blumenladen eine Gedenkfeier organisieren. Sie freuten sich über meinen Vorschlag und ich hatte plötzlich jede Menge Ideen.

»Haben Sie meine Tochter gestern ausspioniert?«, platzte meine Mutter heraus, und obwohl es sehr direkt war, so hatte ich auch schon diesen Gedanken.

»Wir wollten sehen, wie sie mit uns umgeht, ja.«

»Und, hat sie bestanden?«

»Das hat sie, ja.«

»Ich bin auch anwesend. Ihr müsst nicht so tun, als würde ich es nicht hören ...«, sagte ich.

Ich hasse es, übergangen zu werden.

Als sei ich unsichtbar.

»Entschuldige.« Emily blickte mich nun wieder an. »Du hast dich so rührend um mich gekümmert und dir so viel Zeit genommen. Als ich meinem Bruder davon erzählt habe, wusste er, dass du den Laden sehr gut weiterführen könntest - mit deiner Mutter natürlich. Frau Note, unsere Großmutter hatte uns strickte Anweisungen gegeben, und wir haben nur ihren Willen durchgeführt. Sie hat Melanie natürlich vertraut, aber sie wollte, dass auch wir uns ein Bild davon machen.«

»Sie hat geglaubt, Sie würden sonst vermuten, dass es nur ein Hirngespinst sei?«

»Ja. Unsere Großmutter hatte ein so großes Herz und hat stets das Gute in allem gesehen.«

»Frau Hops war eine ganz besondere Frau. Sie hat mir so viel gegeben und beigebracht. Es wäre mir eine Ehre, weiter im Blumenladen arbeiten zu können.«

»Sie hat den Laden auf euch überschreiben lassen.«













4. Marinettesbookland



Das war ein Schock und doch sehr logisch.

Wir hatten eine schöne Gedenkfeier im Blumenladen und auch die Trauerfeier selbst war sehr bewegend. Colin und Emily regelten mit uns alles, was angestanden hatte, und irgendwann waren wir tatsächlich die Besitzer von

Hops Blumen.

Selbstverständlich haben wir den Namen so gelassen und auch sonst haben wir kaum etwas verändert. Ein paar Modernisierungen und modernere Dekorationen, aber ansonsten scheint die Zeit im Blumenladen still zu stehen.

Ein Bild von Frau Hops hängt neben einer Tür, die zum Lager führt und man es sehr gut betrachten kann, wenn man bezahlt.

Noch immer wohnen wir genau gegenüber dem Laden, was sehr praktisch ist.

Die Wohnung von Frau Hops hatte vor einigen Jahren ein Mann bezogen, der Mitte 30 ist. Ich hatte lange gehofft, dass er und meine Mutter zusammenkommen, aber mittlerweile glaube ich es nicht. Wobei ich nicht weiß, wieso es nicht so ist. Meine Eltern waren noch sehr jung, als ich auf die Welt kam. Man sieht Saskia nicht an, dass sie schon 38 ist. Ihre kurzen Haare stehen ihr sehr gut und lassen sie erstrahlen. Seit sie Vollzeit im Blumenladen arbeitet, scheint sie selbst erblüht zu sein. Ihren Job im Krankenhaus hatte sie recht schnell aufgegeben.

Natürlich fehlt uns so etwas Geld, aber wir haben lange darüber gesprochen und ich wollte, dass wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen.


*

Ihr habt sicherlich mitbekommen, dass ich nicht Marinette Strike, sondern Melanie Note heiße, oder?

Meine Tante, Hayley hat den Geburtsnamen ihrer Mutter behalten, während ihr Bruder, also mein Vater, erst nach der Hochzeit der Eltern geboren ist.


*


Nun habe ich aber immer noch das Problem mit dem Namen für meinen ersten Instagram Account.

Ich beiße mir, wenn ich nachdenke, immer auf die Unterlippe oder kaue auf irgendwas herum - meist ist es ein Stift oder etwas Ähnliches. Ich sitze auf dem Bett und blicke mich kurz in meinem Zimmer um. Die Bücher stapeln sich mittlerweile an den Wänden, aber irgendwie finde ich das cool so. Eine ganze Wand nimmt das Bücherregal ein, aber es ist so überfüllt, dass ich es irgendwann nicht mehr sehen konnte. Deshalb hab ich umgeräumt und besser sortiert. Nach Genre und Autor.

Auf dem Boden habe ich die aufgebaut, die mir nicht ganz so gut gefallen haben.

Während ich gedankenverloren alles betrachte, bleibe ich an einer beeindruckende ›Alice im Wunderland‹ Ausgabe hängen und ziehe angestrengt meine Augenbrauen zusammen. Wonderland. Mmh. Passt aber nicht ganz so. Dann kommt mir ein Gedanke und ich tippe nervös die einzelnen Buchstaben ein.


Marinettesbookland


Das gefällt mir, auch wenn es nicht ganz so außergewöhnlich ist. Zu meinem Glück ist dieser Name verfügbar und ich sichere ihn mir schnell.

Nun brauche ich ein Profilbild, aber das habe ich mir schon erstellt gehabt.


Das Bild wird auch mein zweiter Beitrag werden.

Als erstes aber lade ich ein schönes Herz hoch.











*Hallo ihr da draußen,

ich heiße Marinette und bin neu hier, wie ihr

sicherlich sehen könnt.

Noch muss ich mich mit #Instagram auseinandersetzen, aber ich denke, das wird schon werden.

Ich wünsche euch einen schönen Tag.*


Natürlich wird das Bild keiner sehen oder liken, denke ich mir. Aber wer weiß … Ich muss das mit den Hashtags noch lernen und schau mich einfach etwas um. Ich gebe in der Suchliste ›Bookland‹ ein und finde einige Seiten, die den Zusatz im Namen tragen, manche haben noch Zahlen oder komische Zeichen dabei, aber ich wollte es möglichst einfach.

Bei einem Namen bleibe hängen, der

Juliansbookland

heißt und mich irgendwie anzieht.

Sein Profilbild gefällt mir sehr.





Ich gehe seine Galerie durch, lese jeden einzelnen Beitrag komplett, manchmal hat er einen richtigen Roman darunter verfasst, jedenfalls kommt es mir so vor. Er drückt sich sehr gut aus und ist mir irgendwie direkt sympathisch, was totaler Quatsch ist. Aber je mehr ich von ihm sehe und lese, desto mehr möchte ich wissen. Julian. Schöner Name.

Seine Bilder zeigen unterschiedliche Bücher und auch anderes, wie Kaffee und Serien oder Filme. Er ist wahnsinnig kreativ und weiß mit seinen Followern umzugehen.

Allgemein scheint Kaffee ein sehr beliebtes Objekt in der Welt von Instagram zu sein.

Plötzlich halte ich inne und starre wie gebannt auf ein Bild. Es ist genau die gleiche Ausgabe, die ich von ›Alice im Wunderland‹ habe. Ich lege das Handy zur Seite, springe vom Bett, mache einen Schritt zu meinem Bücherregal und schnappe mir direkt das Buch. Es ist die Gesamtausgabe mit den Titeln ›Alice im Wunderland‹ und ›Alice hinter dem Spiegel‹ von Lewis Carroll.

Eine gebundene Ausgabe, die wahnsinnig alt aussieht. Mein Vater brachte es mir 2007 mit, einige Monate, bevor er verschwunden war.

Woher er es hatte, weiß ich bis heute nicht.

Ich schlage das Buch auf und betrachte die erste Seite. Leider ist diese kaum noch lesbar und ich sehe nur die ersten Zahlen: 18, da der zweite Teil im Jahr 1871 erschienen ist, muss es vor der Jahrhundertwende gewesen sein.

Wenn dieser Julian dasselbe Buch hat, dann wäre es ein sehr starker Zufall. Denn das Buch ist sehr selten, was mir das Internet einmal verraten hatte.

Ich überlege, ob ich ihm etwas darunter schreiben soll, und überwinde mich schließlich:

*Hallo @juliansbookland ich habe dieselbe

Ausgabe von ›Alice im Wunderland‹ und finde sie einfach bezaubernd.

Du hast das Buch wirklich wundervoll in Szene gesetzt.*


Ich atme tief aus und klicke mich weiter durch seine Galerie, bis ich am Ende ankomme. Wow, ich bin gerade über 4500 Bilder durchgegangen und nun hab ich das Gefühl, Julian wirklich zu kennen. Ich verlasse seinen Account und will weiter suchen, als ich sehe, dass ich eine Antwort erhalten habe.


*Hallo @marinettesbookland ich würde deine Ausgabe gerne einmal sehen, vielleicht magst du ein Foto davon machen? Du kannst mich gerne markieren. Ich hab gesehen, dass du neu hier bist.

Bin gespannt, was du für Bilder posten wirst.

Du weißt hoffentlich, dass es eine sehr seltene Ausgabe, und die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass du diese auch besitzt.*


Der Unterton gefällt mir nicht. Scheint, als ob er mir nicht glaubt. Wie könnte ich das Buch so präsentieren, dass es auch schön aussieht? Ich habe nicht so viel Dekorationsmittel zur Verfügung. Ich werde eine Collage erstellen und Vorder- und Rückseite, sowie etwas von der Titelseite einfügen, dazu eine kleine Alice und die Grinsekatze. Ich tippe einige Sätze und jede Menge Hashtags. Aber vorher muss ich herausfinden, ob man nur eine begrenzte Anzahl an # benutzen kann.


Wie viele Hashtags darf man maximal bei Instagram benutzen? 30.


Nachdem ich meinen Beitrag hochgeladen und @Juliansbookland eingefügt habe, kommt auch direkt die Antwort:


*@marinettesbookland das ist wirklich unglaublich. Es ist tatsächlich die gleiche Ausgabe.

Ich bin beeindruckt. Weiter so. Deine Collage hast du wirklich schön gemacht. Wenn du etwas wissen willst, dann frag mich ruhig. Ich bin seit vier Jahren auf Instagram. Bis bald bei #bookstagram*


Mein Herz schlägt höher. Warum nur?

Ich klicke auf seinen Hashtag und lande direkt im Paradies für Bücherfreunde. Unfassbar. Das ist ja hier eine eigene Welt. Warum hab ich mich nicht früher hierher verirrt?

Vielleicht finde ich ja hier etwas Kontakt oder kann mich mit anderen austauschen.

In der Schule hab ich so gut wie nie mit jemandem geredet. Es gab Tage, an denen ich nach acht Schulstunden so erledigt und kaputt war, weil ich einfach nur alleine da saß und jeder mich ignorierte. Ich kann es mir nicht erklären. Im Blumenladen bin ich doch auch jemand. Ich meine, die Kunden kommen rein und sehen mich. Aber sobald ich einen von ihnen auf der Straße begegne, bin ich auch für sie unsichtbar.

Colin und Emily Hops kamen noch einige Male in den Blumenladen, doch nach und nach verebbten ihre Besuche und als ich sie vor einigen Monaten zufällig auf der Straße gesehen habe, haben sie mich auch nicht erkannt.


Es wäre schön, einfach mal

wahrgenommen zu werden.


Ich klicke nun bei vielen auch auf ›Folgen‹ und habe irgendwann eine schöne Timeline mit tollen Bildern, einige folgen mir schließlich auch zurück und das gibt mir ein tolles Gefühl. Doch dann sehe ich, oben rechts, dass ich eine Nachricht erhalten habe.

Neugierig klicke ich darauf und mein Herz schlägt noch höher als zuvor.


Juliansbookland

*Hallo Marinette, ich hab mir gedacht,

dir einfach noch einmal zu schreiben, wenn das für dich in Ordnung ist.

Melde dich, wenn du Lust hast.*


Marinettesbookland

*Hallo Julian, wow, danke für deine Nachricht.

Ich bin sehr überrascht. Bei der Anzahl an Followern

und Nachrichten, die du ständig erhalten musst,

nimmst du dir Zeit für jemanden wie mich.*


Juliansbookland

*Das hat nichts mit meinen Followern zu tun, liebe

Marinette. Ich bin nur neugierig. Woher hast du

das Buch? Es ist doch sehr selten, oder?*


Marinettesbookland

*Ich weiß es gar nicht, wenn ich ehrlich bin.

Mein Vater hatte es mir mitgebracht, kurz bevor ich zehn

wurde und seitdem gebe ich sehr gut darauf acht.*


Juliansbookland

*Dann hast du es schon sehr lange, oder?

Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf?*


Marinettesbookland

*19. Und du?*


Juliansbookland

*So jung noch. Ich bin 25 und hab das Buch von meiner Mutter erhalten.

Ebenfalls vor knapp 10 Jahren.*


Marinettesbookland

*Was für ein Zufall :-D

Darf ich dich etwas fragen?*


Juliansbookland

*Natürlich*


Marinettesbookland

*Wie bekommst du nur so tolle Bilder hin? Hast du Tipps für mich?

Ich weiß, du hast wahrscheinlich dein Geheimnis, und wenn du das nicht erzählen willst, dann

verstehe ich das auch. Aber es interessiert mich. Ich habe mir deine ganzen Bilder angeschaut (sorry für den ganzen Spam) und du hast dich ständig

verbessert. Deine anfänglichen Bilder sind noch sehr schlicht und nicht so verspielt. Wie bist du auf die

Idee gekommen, deine Bilder etwas kreativer zu

präsentieren? Hattest du vor so viele Follower zu bekommen oder war das nur ein glücklicher Nebeneffekt?*


Juliansbookland

*Erst einmal: Danke für deinen Spam :-D Es sind ja sehr viele Bilder. Selten nimmt sich jemand Zeit, sie wirklich anzuschauen.

Ich hab bei anderen Bookstagrammern geschaut und mir immer mal etwas abgeguckt. Manche arbeiten mit extra Apps, um tolle Effekte zu erzielen, andere haben

viel Dekorationsmaterial zur Verfügung und manche bevorzugen es komplett pur, ohne

Schnickschnack.

Ich liebe Deko und kaufe mir ständig Neues. Ich habe mehrere Kisten mit den einzelnen

Jahreszeiten und die krame ich immer wieder hervor

und hab so passendes zum Wetter.

Oft habe

ich das Glück auch Zusatzmaterial von einem

Verlag zu einem Buch zu erhalten.

Meist aber gehe ich nach Gefühl ran. Je nachdem, wonach mir gerade ist.*


Marinettesbookland

*Danke, das klingt toll. Ich mag die Variante mit der Dekoration sehr.

Dann werde ich wohl mal Shoppen gehen müssen ;-)

Du hast Kontakte zu Verlagen?*


Juliansbookland

*Ja, so erhalte ich oft Rezensionsexemplare. *


Das finde ich sehr interessant. Dieser Mann scheint mir wirklich helfen zu wollen oder hat es vielleicht doch etwas mit dem Buch zu tun? Kannten sich mein Vater und seine Mutter möglicherweise? Nein, das ist doch ein absurder Gedanke. Oder? Ich werde es herausfinden. Aber ich will nicht zu direkt vorgehen. Nur hin und wieder etwas streuen, mehr nicht. Vielleicht erzählt er ja von sich aus etwas. Er wird sicherlich auch ein Impressum haben, wenn er all das macht, braucht er auch eine Anlaufstelle für Verlage, oder?

Julian beantwortet noch weitere Fragen, bis ich schließlich feststelle, dass es schon Mittagszeit ist und ich meine Mutter bald im Laden ablösen muss. Ich verabschiede mich von Julian und bedanke mich noch Gefühlte tausendmal bei ihm. Ich verlasse diese wunderbare App und geh ich die Küche. Gerade als ich fertig bin und einige Sandwichs gemacht habe, sehe ich, wie meine Mutter den Laden abschließt.

Von unserem Fenster aus kann ich prima die Eingangstür erblicken und das gibt mir ein gutes Gefühl.

Ich beobachte meine Mutter so lange, bis sie unsere Tür aufschließt und bin immer noch froh, dass Frau Hops uns damals den Blumenladen gegeben hat.

Vergessen sind die trüben Jahre und die Nächte voller Zweifel und Weinattacken. Sie sieht jeden Tag so frisch und erholt aus, als ob sie gerade aus einem Dornröschenschlaf erwacht ist. Sie spielt mir auch nichts vor, denn so gut ist sie nicht. Man erkennt in ihrem Gesicht sofort, wenn etwas passiert, sie traurig oder betrübt ist.

»Hey Sonnenschein«, begrüße ich sie und sie strahlt mich wieder einmal an. »Wie war es?«

»Wundervoll. Man spürt, dass Sommer ist und die Leute wieder frische Blumen wollen.«

Ich lächle zufrieden und sie schnappt sich ein Sandwich, nachdem sie sich die Hände gewaschen hat.

Sie erzählt mir noch ein paar Dinge, die ich gleich beachten soll und ich gehe hinüber, mit einer Tasche voller Bücher, und erledige meine Aufgaben. Ich liebe diese Gerüche sehr und genieße die Augenblicke des Alleinseins.

Nachdem ich alles geschafft habe, mache ich einige Bilder mit meinen Büchern, umgeben von verschiedenen Blumen und Farben, passend zum Buch. Einige andere Elemente baue ich mit ein und habe zu den fünf Büchern, die ich bereits gelesen habe und das eine, welches ich aktuell lese, wirklich schöne Fotos machen können. Erst einmal benutze ich nur die Kamera vom Smartphone, aber wer weiß, vielleicht hole ich mir irgendwann eine richtig gute Kamera?

Ich räume alles wieder ordentlich und lade schon einmal ein Bild hoch, bevor ich den Blumenladen wieder aufschließe. Meine Mutter hat einen Termin und ich übernehme gerne. Im Hintergrund läuft ein Radiosender der gute und modere Musik spielt, dazu regelmäßig Nachrichten, aber wenig Werbung bringt, und ich verbringe einige Stunden mit netten und freundlichen Kunden und kann pünktlich zehn nach sechs nach Hause.


*


Heute ist Serienabend und wir essen dazu Pizza. Wir suchen uns immer eine Serie aus, die wir uns auf DVD anschauen.

Meist sind es zwei Folgen am Stück, aber ab und zu passiert es, dass wir einfach weitersehen müssen. Zweimal in der Woche machen wir das, manchmal, wenn eine Staffel sehr spannend ist, schauen wir auch den kompletten Sonntag durch. Jeden Sonntagabend gucken wir einen Film. Es ist uns beiden wichtig, die verlorene Zeit aufzuholen. Fast fünf Jahre schien sie für mich unerreichbar gewesen zu sein und ich hab wirklich gekämpft. Dank des Blumenladens aber sind wir wieder zusammengewachsen und sie musste eines Tages feststellen, dass ich zu einer jungen Frau herangewachsen bin und nicht mehr das kleine Mädchen von einst war. In all dieser Zeit hatte ich wirklich viel durchzumachen:


In der Schule wurde ich nicht gesehen und wahrgenommen.

Meine Mutter war in ihrer eigenen Welt und wirklich selten für mich da.


Wie ich all das geschafft habe, weiß ich wirklich nicht. Bücher haben mir sehr geholfen und natürlich Frau Hops.

Warum sie mich nicht vergessen hatte, kann ich mir immer noch nicht erklären. Aber sie tat nicht nur so, als würde sie sich erinnern, sondern sie wusste sofort, wer ich war, wenn ich zu ihr kam. Ob es etwas mit dem Blumenladen auf sich hatte oder weil diese gute alte Dame einfach sehr viel Güte in sich trug, kann ich nicht sagen.


*


Etwas Zeit habe ich noch, um auf Instagram zu sehen, ob es eine Reaktion gegeben hat.

Sprachlos starre ich auf mein Handy, nachdem ich die App geöffnet habe. Ich hab mit vielleicht vier Likes gerechnet, da manche Hashtags schon etwas bringen. Aber das? Ich scrolle mich durch und entdecke den Grund, warum ich plötzlich so viele Follower und Likes habe.


Bilder 4

Follower XXX

Follows 134


Das Bild hat tatsächlich über 100 Likes erhalten. Wie konnte das nur geschehen?

Liegt es daran, dass @juliansbookland meine Seite vorgestellt hat?

Schnell reiche ich ein weiteres Bild hinterher.


*Wow, vielen Dank für eure ganzen Herzchen im

letzten Bild.

Besonders danke ich @juliansbookland.

Ihr seid spitze!*


Ich füge wieder viele # ein und bin wirklich sehr froh, diesen Schritt gewagt zu haben. Allerdings stellt sich mir jetzt noch die Frage, wie ich zur Frankfurter Buchmesse kommen soll, denn ich will mich ja nicht ›zeigen‹.

Ihr fragt euch sicherlich wieso, oder? Es liegt nicht unbedingt am Aussehen, sondern an der Wahrnehmung.

Sobald ich ein Bild von mir hochladen würde, besteht die Möglichkeit, dass ich direkt wieder vergessen werde, was ich nicht möchte. Mein Buch erscheint bald und ich will nicht, dass mich jeder für einen Freak hält. Versteht mich nicht falsch, ich stehe zu meinem Buch und auch zu meinem Aussehen. Ich bin eben durchschnittlich, aber irgendwie scheine ich schnell in Vergessenheit zu geraten, sobald ich aus dem Blickfeld verschwunden bin.

Bald fängt meine Lehre an und ich habe richtig Angst, wie es da sein wird.


Was, wenn das Spiel von vorne beginnt?

Was, wenn die Lehrer oder andere Schüler mich nicht wahrnehmen?


In meiner Geschichte ›Das mysteriöse Mädchen: Die unsichtbare Retterin‹ verliebt sich ein Detektiv in dieses Mädchen, welches schwer zu finden ist. Aber er gibt nicht auf, sondern versucht alles, um zu erfahren, wer sie ist und was sie antreibt.

Ich möchte auch irgendwann so etwas erleben. Das sich jemand ins Zeug für mich legt und mir das Gefühl gibt, wirklich wichtig zu sein.

Ich war ab und zu schon verliebt, aber es ist wie es ist: Niemand sieht mich. Manchmal hab ich mich gefragt, ob es einfacher wäre, wenn mich meine Mitschüler verspotten würden? Aber sie haben durch mich hindurchgeschaut. Im Sportunterricht wurde ich nicht als letztes gewählt, sie haben einfach angefangen, nachdem der ›letzte‹ ins Team gekommen ist.

So langsam muss ich diese Gedanken auch unterdrücken. Es bringt mir nichts mehr, jetzt noch darüber nachzudenken. Die Schule ist vorbei. Ich habe sie überlebt und nun beginnt mein neues Leben. Mein Buch wird verlegt und ich kann stolz auf mich sein.


Ich gehe die Bilder weiter durch und stelle fest, wie einfach das Ganze doch im Grunde ist. Ich möchte das Handy gerade wieder zur Seite legen, da ich noch kurz Duschen will, bevor wir anfangen zu gucken, als ich wieder eine Nachricht entdecke.



Juliansbookland

*Deine letzten Bilder sind wirklich großartig. Gut gemacht, Marinette.

Bist du jetzt eigentlich mit der Schule fertig?*


Ich frage mich, wieso er mir diese Frage stellt, aber ich antworte darauf.


Juliansbookland

*Wirst du eine Lehre beginnen?*


Marinettesbookland

*Ja, ich werde eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau machen.*


Auch hier musste ich eingestehen, dass scheinbar ein Fluch auf mir zu liegen scheint. Ich hatte über 100 Bewerbungen raus geschickt und 30 Vorstellungsgespräche erhalten, aber es kam absolut nichts zurück. Auf Nachfrage zuckten sie nur die Schultern oder klangen seltsam am Telefon. Irgendwann konnte es meine Mutter nicht mehr mit ansehen und hat das scheinbar Unmöglichste möglich gemacht und den Blumenladen als Ausbildungsbetrieb anmelden können. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hatte, aber eines Tages lag mein Ausbildungsvertrag auf dem Küchentisch und ich war einfach nur erleichtert. Denn ich kann tatsächlich eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau absolvieren und hab so auch später gute Chancen. Ich kenne den Blumenladen besser als irgendjemand sonst und sollte ich mal krank sein, brauche ich den Chef nicht extra anrufen. Meine Chefin würde mich auch nicht übersehen oder vergessen. Die Schule befindet sich im Ort und ist zu Fuß erreichbar, denn für einen Führerschein hat es bisher noch nicht gereicht. Außerdem stellt sich auch hier die Frage: Müsste ich dem Fahrlehrer jedes Mal erklären, wer ich bin?


Juliansbookland

*Das klingt gut. Ich bin tatsächlich Blogger vom Beruf und verdiene mein Geld auf diese Weise.*


Marinettesbookland

*Beeindruckend. Du bist einer dieser Influencer, von

denen ich schon oft im Fernsehen gehört habe?

Du verdienst dein Geld damit, dass du verschiedene

Dinge präsentierst?

Bist du auch auf YouTube?*


Juliansbookland

*Endlich mal jemand, dem ich es nicht erklären muss. Das freut mich :-)

Ich bin indirekt auf YouTube zu sehen. Du wirst mich nur von hinten, der Seite oder von oben betrachten

können.

Mein Gesicht aber nicht. Ich glaube, das ist mein einziges Geheimnis. Ich will nicht, dass man mich sieht, wenn du verstehst.*


Marinettesbookland

*Besser, als du glaubst.

Du hast deinen YouTube Channel bestimmt auf deinem Account verlinkt, oder? Ich muss

erst einmal los, nachher schaue ich mit meiner Mutter noch eine Serie auf DVD, aber danach werde ich mir deine Videos angucken. Bin gespannt.

Bis später :-)*


Juliansbookland

*Viel Spaß und vielleicht magst du mir dann erzählen, wie du die Videos gefunden hast.*


Lächelnd lege ich das Handy zur Seite und freue mich total auf das, was er so macht. Mit einem eigenartigen Hochgefühl schwebe ich ins Badezimmer und lasse die Dusche an. Ich muss mich auf die Serie konzentrieren, denn ich liebe diese Abende mit meiner Mutter. Zeit mit ihr zu verbringen ist sehr schön und ich bin froh, dass wir den absolut gleichen Geschmack in Serien und Filme haben.

Diese Folgen unserer derzeitigen Lieblingsserie haben es in sich und wir beschließen insgesamt drei zu gucken.

Kurz nach 23 Uhr wünsche ich meiner Mutter eine gute Nacht und ich renne in mein Zimmer, um noch ein paar Videos anschauen zu können.

Und er hat nicht übertrieben: Man sieht tatsächlich nie sein Gesicht. Er hat das Licht jedes Mal so geschickt eingesetzt, dass es immer im Schatten liegt.

Aber seine Stimme … Ich verschlinge so viele Videos, wie möglich, bis ich erschrocken auf die Uhr blicke und feststelle, dass es bereits zwei Uhr nachts ist. Ich habe zwar Ferien, aber muss ja trotzdem im Laden aushelfen. Zum Glück erst gegen Mittag, denn so kann ich doch lange genug schlafen.

Seine Stimme ist mir mittlerweile so vertraut, dass ich schließlich sogar davon träume. Irgendwie fasziniert mich der Mann.




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