top of page

Leseprobe aus "Lydia"

Lydia


Zerplatzte Träume


Janine Zachariae










Für alle, die sich verloren fühlen,

und erst noch einen Weg finden müssen.

Für jene, die ihn bereits gefunden haben.

Bleibt euch selber treu und hört auf euer Herz.



»Liebe ist nur ein Rauch, den Seufzerdampf erzeugten,

Geschürt, ein Feuer, von dem die Augen leuchten,

Gequält ein Meer, von Tränen angeschwellt;

Was ist sie sonst? Verständ’ge Raserei

Und ekle Gall und süße Spezerei.«


William Shakespeare, ›Romeo und Julia‹


***


»Weil sie eben unsere Lydia ist. Für sie ist Liebe nun mal stärker als alles andere. Aber sei vorsichtig! Sie ist verletzlicher, als sie es sich selbst eingesteht. Sie würde nie ein schlechtes Wort über uns denken, und doch wird sie das Gefühl haben, hintergangen worden zu sein. Wir haben sie in dem Moment im Stich gelassen, als Vater beschloss sie wegzuschicken.«

»Wir hatten keine Wahl.«

»Es gibt immer eine Wahl«, meinte Michael ernst.


***


2009

Geschichten entwickeln sich meist wie von selbst. Irgendwie sind sie schon da, bevor man sie niederschreiben will. Sie sind präsent in Gedanken und im Handeln. Jeder von uns hat eine, jeder trägt sie mit sich. Doch kaum jemand glaubt, seine wäre es wert, aufgeschrieben zu werden.

»Was sind schon meine Sorgen, gegenüber dem, was in der Welt geschieht?«, dachte Lydia. Sie war gerade mal 15 Jahre alt und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.

Gut, bis zu jenem Zeitpunkt wusste sie nicht, dass ihre Geschichte eine ganz besondere war. Sie glaubte, ihre einzige Sorge wäre die nächste Mathematikprüfung.


Wenn sie geahnt hätte, wie schnell sich alles verändern würde, wäre sie vorsichtiger gewesen.

Wenn sie geahnt hätte, dass ihr Leben innerhalb der nächsten Tage auf den Kopf gestellt wird, wäre sie nicht so locker gewesen.

Zum Glück aber konnte niemand in die Zukunft blicken, denn so blieb Lydia noch für wenige Tage ein ganz normales Mädchen, das ihr Leben so mochte, wie es war - ohne Kompromisse, ohne Herzschmerz und ohne das Gefühl so tief zu sinken, dass sie nichts mehr halten konnte ...


*


Drei Brüder hatte Lydia, aber nur Sam wohnte noch im Haus des Vaters mit. Nicht mehr lange, und er würde sein Jura - Studium antreten.

Während der 21-jährige Stephen eine Art Überflieger war, einige Semester überspringen und seinem Traumjob nachgehen konnte, war der älteste, Michael, bereits seit einigen Jahren glücklich verheiratet und ebenfalls erfolgreich in seinem Job.

Die Mutter der Kinder war kurz nach Lydias Geburt weggegangen und kam nie wieder zurück.

Nur ihr Vater hatte noch Kontakt zu ihr.


»Warum willst du uns nicht sagen, wo sie ist?«, waren immer wieder die Fragen der Jungs.

»Ihr würdet es nicht verstehen, glaubt mir. Aber es geht ihr gut«, antwortete er ein jedes Mal.

Lydia selbst hatte von alledem noch nie etwas mitbekommen.

Es war eine Abmachung, die stattfand, als das Mädchen mit drei Jahren begann, neugierig zu werden. In der Schule aber wollte sie mehr erfahren, doch auch hier bekam sie nie eine zufriedenstellende Antwort. Sie hörte die Kinder über ihre Mütter sprechen und fühlte sich ein jedes Mal ausgeschlossen und seltsam leer. Sie wusste nicht, wieso, aber es schmerzte sie. Doch hatte sie ihre großen Brüder und diese waren für sie da, wenn sie wieder einmal traurig von der Schule nach Hause kam.

Irgendwann begriff Lydia, dass es nicht ihre Schuld war und sie dankbar für das sein sollte, was sie hatte: Brüder, die sie beschützten und ein Vater, der alles ermöglichte. Es ging ihr gut und sie verdrängte die trüben Gedanken an eine Mutter, die sie scheinbar nicht mehr lieb hatte.

Sie war ein lebensfrohes Kind. Ihr Vater verwöhnte sie und sie bekam alles, was sie sich wünschte. Dennoch war die Kleine bescheiden, da sie wusste, wie die Finanzen waren. Schließlich würde Sams Jura-Studium nicht billig werden.

Auch die anderen Jungs genossen kostspielige Ausbildungen, die ihre Zukunft absicherten, ganz gleich, welche Krise das Land heimsuchte. Steve war Journalist und Michael Immobilienmakler. 1. Zukunftsträume



Manchmal kam auch Lydia der Gedanke, dass sie studieren könnte. Sie liebte Musik, Bücher und Kunst. Sie selbst war in keinem Gebiet gut, aber sie interessierte sich dafür. Ob sie überhaupt das Gymnasium besuchen wollte, nachdem sie bereits fast zehn Jahre die Schulbank gedrückt hatte, wusste sie auch noch nicht. Ihre Noten hätten dafür ausgereicht, aber eigentlich wollte sie sich lieber direkt in eine Ausbildung stürzen. Sie spürte den Drang nach Unabhängigkeit.

»Papa, ich hab nachgedacht«, sagte Lydia eines Abends. Sam und ihr Vater schauten Fußball im Fernsehen, aber sie wartete bis zur Halbzeit, ehe sie ihnen ihre Entscheidung mitteilte. »Also«, sie holte tief Luft, »ich werde nicht das Abitur machen und demnach auch nicht studieren.«

»Wieso nicht?« Ihr Vater war überrascht und schaltete den Ton aus.

»Schau, ich hab überschlagen, was dich die Jungs gekostet haben. Du hast viel Geld in ihre Ausbildung gesteckt - gut, Michael hat es dir zurückgegeben, aber das wolltest du ja nicht. Die Wirtschaftskrise wird sicherlich noch lange Nachhallen und wer weiß, ob du nicht auch in einem halben Jahr Kurzarbeit leistest oder halt weniger Aufträge bekommst. BAföG will ich nicht beantragen, da man das immer zurückzahlen muss, ganz gleich, ob man es kann oder nicht. Meine Brüder haben alle ein Ziel gehabt, als sie bereits in meinem Alter waren. Sie sind auf ihren Gebieten talentiert. Ich weiß nicht, was ich machen will. Daher wäre es nicht gerecht, wenn ich noch zwei oder drei Jahre zur Schule gehe, um anschließend noch einige Semester studiere.

Deshalb habe ich mich umgesehen, Bewerbungen verschickt und warte nun auf Antworten. Es ist ja noch etwas Zeit.«

Manchmal, wenn Lydia etwas wirklich wichtig war, überschlugen sich ihre Gedanken.

Die zwei starrten sie nur perplex an und es dauerte einige Augenblicke, ehe Sam endlich etwas dazu sagen konnte:

»Schwesterchen, wie kommst du denn auf solche Gedanken?«

»So was passiert, wenn man den Kindern seinen eigenen Fernseher gibt!«, lachte Lydia und sah demonstrativ zu ihrem Dad und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Im Ernst, ich hab das alles mit der Krise verfolgt, schon seit Monaten. Klar, US-Präsident Obama hat schon viel erreicht in seiner kurzen Amtszeit und auch Kanzlerin Merkel versucht irgendwie etwas zu machen. Aber die wirtschaftliche Lage ist nicht lustig und viele Jobs sind betroffen. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich später studieren will. Ich möchte lieber eine Lehrstelle.

Lernen macht mir eh keinen Spaß, das wisst ihr. Und wenn ich dran denke, vielleicht noch fünf, sechs Jahre büffeln zu müssen, ohne zu wissen, ob ich später überhaupt eine Arbeit erhalte, werde ich nur traurig. Sams Noten sind super, er muss studieren«, während sie das letzte sagte, machte sie große Augen und sah ihren Bruder an.

»Lydia, du bist klüger als die meisten, die ich kenne, und jünger als jene, die glauben, die Welt nach ihrem Studium ändern zu können.« Sam stand von seinem gemütlichen Sofa auf und ging zu ihr.

»Was soll’s. Drei von vier Schaf-Kinder sind Genies. Das ist doch sehr gut.« Sie brachte ihre Familie immer zum Lachen, egal, wie wichtig ein Gespräch war. »Aber macht euch mal keine Gedanken. Das Spiel fängt wieder an. Ich werde zurück in mein Zimmer gehen und etwas fernsehen.«

»Aber keine Nachrichten mehr!«, rief ihr Bruder hinterher. Er setzte sich wieder zu seinem Vater. Beide waren sehr überrascht. Lydia hörte, wie sie sich etwas über sie unterhielten, aber dann erklang der Pfiff zur zweiten Halbzeit und sie widmeten sich wieder der Nationalelf und schimpften auf die Spieler, die ihrer Meinung nach falsch eingewechselt wurden und auch über die Schiedsrichter, die ein Abseits nicht richtig deuteten.


So war Lydia. Von außen sah sie unbeschwert aus, doch sie dachte viel nach. Zu viel, wie ihre Familie meinte. Als sie am Tag darauf von der Schule nach Hause kam, hatte sie Besuch von Michael und Stephen.

»Ach, Hallo ihr«, begrüßte sie die Jungs und umarmte ihre großen Brüder.

»Hey, Kleines«, kam es fast wie im Chor. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.

Sam und ihr Vater waren nicht da. Michael fing als erster mit dem Thema an:

»Du willst nach der zehnten Klasse nicht weiter zur Schule gehen?«, hakte der große Bruder vorsichtig nach.

Lydia stellte sich wieder hin und funkelte sie böse an.

»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen und ihr seid nur hier, um mir ins Gewissen zu reden?«

»Nein, nein. Gar nicht«, wehrten beide fast synchron ab.

»Also, ich hab es gestern Abend Papa und Sam erklärt.« Sie stemmte ihre Arme in ihre Hüften und sah beiden direkt in die Augen.

»Liegt es am Geld?«, wollte Steve wissen.

»Zum Teil«, meinte sie und seufzte. »Ich sehe aber auch keinen Sinn für mich darin.«

»Geld haben wir und Vater hat einiges für uns alle zurückgelegt«, sagte Steve direkt und beobachtete seine kleine Schwester. Michael stimmte dem nickend zu. Er war nie ein Mann großer Worte, aber seine Anwesenheit allein genügte oftmals schon aus, um zu zeigen, dass man sich auf ihn verlassen konnte.

»Ich will Vater einfach nicht noch mehr auf den Taschen liegen.«

Die Jungs sahen sich fragend an. Die Brüder konnten miteinander kommunizieren, ohne zu sprechen. Besonders wenn Lydia bei ihnen war, konnte diese Art der Verständigung sehr hilfreich sein. Manchmal schaute Lydia sie dann argwöhnisch an, als würde sie ahnen, das etwas nicht stimmte.

»Hört mal, ich freue mich immer, euch zu sehen, aber ich will wirklich nicht auf ein Gymnasium und sollte ich irgendwann die Muse haben zu studieren, kann ich auch ein Fernstudium machen. Die sind sicherlich nicht so wie ein ›Richtiges‹, aber sie öffnen einem auch Türen. Was sollte ich denn eurer Meinung nach studieren?«, fragte sie aufgebracht und fuhr sich mit der Hand durch ihr langes dunkelblondes Haar.

»Ein Fernstudium? Das kostet auch Geld!« Steve machte sich spürbar Sorgen um seine kleine Schwester und blickte ihr direkt in die Augen, denn darin konnte er mehr erkennen, als in ihren Worten. Lydia aber wirkte entschlossen, als wüsste sie, wie ihre Zukunft aussieht. Als hätte sie alles genau durchdacht und geplant. Er musste schmunzeln, denn genauso war es wahrscheinlich: Sie hatte einen Plan, den sie nur noch nicht verstanden. Michael hörte schweigend zu, aber auch er erkannte, wie sie sich selbst sah.

»Ja, aber nicht annähernd so viel wie eins an einer Uni. Ein Fernstudium kann ich von zuhause aus machen und nebenbei arbeiten. Wenn ich ein Studium antreten würde, bräuchte ich eine Bleibe und müsste zusätzlich eh Geldverdienen«, versuchte sie ihren Standpunkt ganz klar darzustellen.

»Du magst doch Bücher! Du könntest Literatur studieren oder Deutsch oder Geschichte.«

»Steve, und, was mache ich dann mit einem solchen Wissen?«

»Du könntest Lehrerin oder Bibliothekarin werden ... Du könntest alles werden, was du willst!«, ergriff der Ältere das Wort.

»Ihr redet so, als wäre es schlecht, nicht zu studieren! Warum sollte jemand, der nicht x Jahre eine Uni besuchte, schlechter in etwas sein? Klar, alles kann man nicht machen. Aber es gibt viele tolle Jobs! Ich könnte genauso gut Buchhändlerin werden oder Einzelhandelskauffrau«, sagte Lydia.

»Es ist nichts Schlechtes dabei. Aber wenn man doch, im Prinzip, was anderes werden will, warum sollte man sein Talent vergeuden?«

»Wer vergeudet denn hier etwas, Michael?«, sagte sie etwas lauter, als beabsichtigt und senkte ihre Stimme wieder, bevor sie fortfuhr. »Ihr habt eure Chancen ergriffen. Ihr habt eure Interessen und Fähigkeiten so eingesetzt, dass ihr das Beste daraus machen konntet. Auch Sam wird sicher eines Tages ein toller Anwalt sein. Deine Frau, Michael, macht ihre Arbeit bestimmt auch grandios. Versteht ihr nicht? Ich weiß, was ich kann und was nicht. Ich kenne meine Möglichkeiten und ich weiß, dass ich sicherlich keinen oder kaum Erfolg haben werde«, erklärte sie stur.

Lydia schätzte sich seit jeher falsch ein. Sie sah nicht, was sie wirklich in sich hatte.


Manchmal, auch wenn es nur Augenblicke waren, fühlte sie sich nicht zugehörig. Wie Fanny aus ›Mansfield Park‹: Sie gehörte zur Familie, aber irgendetwas fehlte.


Damit war für sie das Thema beendet. Steve wollte gerade noch einmal ausholen, als es an der Tür klingelte. Lydia war erleichtert und nahm ein Paket entgegen, bedankte sich beim Postboten und ging zurück ins Wohnzimmer. »Ist für Vati.«

Steve schaute es sich an und Lydia glaubte, für einen Moment etwas in seiner Mimik wahrgenommen zu haben, als er es sich anschaute.

»Wann ist er eigentlich zu Hause?«, erkundigte er sich.

»Dauert nicht mehr lange. Viertelstunde noch, warum?«

»Weil ich mir gerade gedacht habe, wenn er zurück ist, können wir noch das schöne Wetter ausnutzen.«

»Mmh, ich müsste eigentlich lernen!«, murmelte Lydia.

»Ach, komm schon. Du lernst seit Monaten ununterbrochen! Zuviel des Guten ist auch nicht hilfreich.«

Lydia strahlte, weil sie annahm, ihre Brüder würden sie auch noch dazu drängen. Sie paukte in der Schule schon so viel, das ihr Kopf wehtat. Schließlich wurde sie oft - nicht ausgeschimpft - aber doch anders behandelt, wenn sie eine schlechte Note erhalten hatte. Ihr Vater ignorierte sie dann für den restlichen Tag und manchmal sogar das ganze Wochenende.

Michael konnte nicht länger bleiben, aber er war froh, dass Stephen noch Zeit mit ihr verbringen wollte.


Als ihr Vater nach Hause kam, erzählte sie vom Paket und auch hier erkannte sie ein leichtes Zucken, sie ignorierte es und fragte, ob sie mit Stephen wegkönnte.

»Zum Abendessen seid ihr wieder zurück«, meinte er nur und widmete sich, als er alleine war, dem Inhalt des Pakets.


Lydia sah zu Steve auf. Er war ihr am ähnlichsten, auch wenn sie sich allgemein von den anderen unterschied: Sie hatte mittel-blondes Haar, ihre Brüder waren alle brünett. Ihre Augen waren grün, während alle anderen in ihrer Familie braune Augen hatten. Sie machte sich nichts aus solchen Äußerlichkeiten. Steve war stets für sie da. Michael und Sam auch, aber irgendwie hatte sie immer mehr Zeit mit Steve verbracht.

Er fühlte sich für sie verantwortlich und wollte möglichst jegliches Leid von ihr nehmen. Deshalb war er da, wenn sie ihn brauchte.


»Schau mal, Brüderchen, da ziehen welche ein!«

»Neue Nachbarn sind doch immer gut. Sie scheinen Kinder zu haben, siehst du!«

Beide blieben einen Moment vor dem großen weißen Haus stehen. Es war genau neben ihrem und jedes Mal, wenn sie von der Schule kam, fand sie, dass es eine Verschwendung war, wenn ein solches Haus ohne Besitzer blieb. Es hatte viele Fenster, eine Terrasse, Balkon und einen wunderschönen Garten mit einem Brunnen.

Der Frühling war erst wenige Wochen alt und doch blühte schon alles. Der Vermieter kümmerte sich darum.

Es stand nun zwei Jahre leer.

»So, was wollen wir heute, bei diesem schönen Wetter, unternehmen?«

»Ich weiß was!«, sagte sie und klatschte fröhlich in die Hände. Sie schaute ihn hoffnungsvoll an und er meinte nur:

»Och, nein. Die Sonne scheint, es ist warm und du willst wirklich in den Buchladen?«

Sie nickte. »Ich war schon lange nicht mehr dort und mittlerweile gibt es einige neue Bücher, die ich mir gerne einmal ansehen möchte. Heute ist Donnerstag, da passt es doch gut, oder?« Steve gab sich geschlagen.

Wenn es um Bücher ging, hatte er keine Chance.

»Na gut. Aber nur, wenn wir einen Umweg um den Teich mit den Schwänen machen«, sagte er bereitwillig.

Sie verbrachten einen schönen Nachmittag zusammen und Steve kaufte ihr gleich zwei Bücher, auch wenn sie es gar nicht beabsichtigte.

»Du weißt, ich schau sie mir immer gerne an und liebe den Geruch von neuen Büchern. Madlen - die Inhaberin - freut sich auch so, mich zu sehen. Ich hab mich übrigens dort beworben. Madlen hatte mir vorhin gesagt, dass ich gute Chancen hätte. Ich soll am Samstag mal Probearbeiten«, erzählte sie fröhlich. Lydia konnte von einem Thema zum anderen wechseln, ohne Luft zu holen.

»Wann hat sie dir das denn gesagt?«, erkundigte sich ihr Bruder.

»Als du dir die Sportzeitschriften angesehen hast.« Sie boxte ihn auf den Oberarm und lachte.


Anschließend machten sie sich wieder auf den Weg nach Hause.

»Der Umzugswagen ist schon weg.« Kaum hatte sie die Wörter gesagt, sahen beide jemanden auf dem Balkon.

»Hallo!«, winkte ihr neuer Nachbar.

»Hi!«, krächzte sie. Mehr brachte sie nicht heraus.

»Lydia, was ist denn mit dir? Du wirst ja ganz rot!« Neckte ihr Bruder sie.

»Quatsch. Ich hab nur einen Sonnenbrand«, stammelte das Mädchen.

»Ja, alles klar, von den vielen Büchern sicherlich.« Er schubste sie etwas und beide gingen ins Haus.

»Ach, da seid ihr ja. Steve, bleibst du zum Essen?«, fragte ihr Vater. Steve willigte ein, nachdem er auf die Uhr blickte und sich sicher war, dass er noch genügend Zeit hatte, ehe er wieder losmüsste. Kaum waren sie im Wohnzimmer, wurde Lydia auch schon in die Küche gerufen und Sammy bat sie, den Tisch zu decken. Er wusste, dass Steve über das Päckchen sprechen würde, welches einige Stunden zuvor angekommen war.

»Lass es gut sein, Bruder. Mir hat er auch nichts erzählt«, seufzte Sammy, nachdem sich Herr Schaf wieder einmal herausgeredet hatte.

»Wer hat wem nichts erzählt?« Lydia kam zufällig dazu, aber alle verstummten nur.

»Deine Brüder wollten wissen, was in dem Päckchen war, das ich von eBay ersteigert hatte. Aber wenn ich es euch jetzt sage, ist es ja keine Überraschung mehr«, flunkerte der Vater.

»Überraschung?«

»Ja! Sam fängt bald ein neues Leben an und bei dir ist auch demnächst ein wichtiger Abschnitt zu Ende. Aus diesem Grund gibt es eine Überraschung, aber nun hab ich zu viel verraten.« So was konnte Sascha schnell erfinden, jetzt musste er allerdings noch zwei Geschenke besorgen.

»Na, dann wollen wir mal nicht weiter fragen, nicht wahr Jungs?! Ach ja, wir können essen.«

Sie drehte sich um und hüpfte in die Küche.

»Gut gerettet, Vater!«, sagten die Jungs und klopften ihm auf die Schulter. Doch skeptisch war Steve trotzdem, denn dieses Mal schien es anders zu sein, als sonst. Nie erzählte ihr Vater ihnen, was los war. Sie alle wussten etwas, aber sie verschwiegen das Offenbare.

Die Familie setzte sich, während Lydia die vollen Teller auf den Tisch stellte.

»Ach, Schwesterchen, wolltest du nicht noch etwas erzählen?«

Lydia sah Steve mit großen Augen an.

»Hä? Ah ja, ich hab vielleicht einen Ausbildungsplatz.

Am Samstag soll ich hier im Bücherladen Probearbeiten.«

Sie war schon jetzt aufgeregt und freute sich ungemein. Es war ihr Lieblingsjob. Sie wollte diese Ausbildung unbedingt.

»Das ist klasse. Gut gemacht. Du verstehst dich ja mit der Ladenbesitzerin so gut«, beglückwünschte sie Sam.

»Das bedeutet, dass du hierbleiben willst?«

Diese Frage von ihrem Vater kam unerwartet und ließ Lydia erst einmal innehalten. Sie blickte ihn verdattert an und runzelte die Stirn.

»Dachte ich eigentlich. Äh, ich hatte gehofft, die Lehre über noch hier wohnen zu können. Aber wenn du nicht willst, dann such ich mir eine Wohnung, sobald ich etwas Geld gespart habe.«

»Das meinte ich nicht. Natürlich kannst du solange hierbleiben, wie du magst. Ich dachte nur, du findest das Dorf vielleicht zu langweilig«, meinte ihr Vater ausweichend und nahm sich eine Gabel voll mit Spaghetti.

»Nebenan ist eine Familie eingezogen, der Junge dürfte in ihrem Alter sein. Vielleicht wird es dann gar nicht mehr so langweilig«, stänkerte Steve.

»Ihr habt die Nachbarn schon kennen gelernt?«, wollte Sascha wissen, ohne auf die Bemerkung einzugehen.

»Nicht direkt. Wir haben heute nur gesehen, wie der Umzugswagen da stand und als wir wieder zurückkamen, war er weg. Dann haben wir auf dem Balkon diesen Jungen gesehen und das war es«, antwortete sie etwas überrumpelt.

»Der Junge gefällt unsrer kleinen Schwester also?«, bohrte Sam nach.

»Sie wurde jedenfalls rot, als er uns begrüßte.«

Die Jungs lachten, nur Lydia war es peinlich.

Keiner bemerkte den besorgten Blick von Sascha.

Immer und überall hörte Lydia Musik und so auch auf dem Weg zur Schule. Dadurch bekam sie nicht gleich mit, dass nach ihr gerufen wurde. Sie rechnete gar nicht damit, angesprochen zu werden.

»Hi, warte mal!«, rief jemand und hatte Lydia schon beinahe eingeholt. Sie drehte sich überrascht um und löste ihre Ohrstöpsel.

»Hallo, neuer Nachbar!«

»Tom Hafe.«

»Lydia Schaf.«

Er reichte ihr die Hand und sah ihr direkt in die Augen. Sie errötete und schaute verlegen zur Seite.

»Bist du gerade auf dem Weg zur Schule?«

Sie nickte und wartete ab, was er nun sagen würde.

»Darf ich dich etwas begleiten? Ich kenne hier noch keinen und will mich nicht verlaufen.« Sie machte eine Kopfbewegung, die signalisierte, dass sie gehen konnten.

Schmunzelte aber bei der Bemerkung, er könne sich in diesem Ort verlaufen.

»Woher kommst du?«, wollte Lydia wissen und beobachtete ihn von der Seite aus, dabei brauchte sie gar nicht so weit nach oben blicken, denn so viel größer war er gar nicht.

»Aus Köln«, antwortete Tom.

»Warum seid ihr hergezogen?«

»Meine Mutter hatte immer so starke Kopfschmerzen von dem Smog und mein Vater bat um eine Versetzung hier in diese Gegend. Tja, so sind wir hier gelandet«, meinte er schulterzuckend.

»Was arbeitet dein Vater?«

»Er ist Museumsdirektor. Im Museum, in der Stadt, wurde eine Stelle frei und die hat er sich sofort geschnappt, als es günstig stand. Meine Mutter ist Architektin, sie hat bereits neue Aufträge erhalten, zudem lehrt sie an der Universität in Heidelberg«, erklärte er.

»Deine Eltern haben echt tolle Berufe. Was heißt aber ›günstig‹?«, hakte Lydia nach.

»Ferienbeginn. Ja, das haben sie.«

»Ach so, dann hast du schon Ferien? Ich muss noch etwas durchhalten.«

Tom lachte.

»Du bist in der Zehnten, oder?«

»Jupp«, sagte Lydia.

»Schon Prüfungen gehabt?«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

»Ja, Montag, Mittwoch und in einer halben Stunde.«

»Und was?«

Sie verzog ihr Gesicht: »Mathe!«

»Beileid. Deutsch und Englisch hast du demnach schon überstanden?«

»Ja. Darüber hab ich mir auch kaum Gedanken gemacht. Im Grunde wie mit Mathe. Was ich bis heute nicht weiß, bekomme ich eh nicht mehr rein. Daher hab ich es ruhig angehen lassen, mehr oder weniger«, plapperte sie nervös und rieb sich etwas den Nacken. Er sah zu ihr und erkannte, dass sie nicht ganz die Wahrheit sprach.

Was auch stimmte, denn manchmal lernte sie bis nach Mitternacht. Sie gönnte sich nur wenige Pausen. Diese nutzte sie allerdings ganz bewusst: Spaziergänge, Lesen und ganz viel Musik – was ihr auch beim Lernen half.

»Entweder man kann’s oder nicht und ich kann’s nicht«, sagte sie mit einem Zwinkern.

»Ich wünschte, ich wäre so unbekümmert gewesen«, seufzte Tom Hafe und kickte gedankenverloren einen kleinen Stein vor sich.

»Wie lief es denn bei dir?«

»Nun, Mathe lief, denke ich, ganz gut, Deutsch sicher auch. Nur in Englisch hatte ich Probleme. Ich hab allerdings wie blöde gelernt«, gab er zu und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus und irgendwie fand sie ihn schon sehr süß.

»Und mündlich?«

»Werde ich dann hier machen. Das Schulsystem ist ja ähnlich. Großartig Unterricht gibt es ja auch nicht mehr, so dass mich deine Lehrer nicht verunsichern können. Französisch und Sport«, erzählte der Junge.

»Französisch kann ich ja noch verstehen, aber Sport?«, wollte sie wissen.

»In beiden steh ich auf kippe. Bei den anderen Fächern wäre es fast egal, welche Note ich bekomme.«

»Ich muss Geographie und Biologie machen.«

»Autsch.« Er legte seine Stirn in Falten, was aber lustig aussah.

»Das kannst du laut sagen. So, Tom, das ist die tolle Schule, in die du auch bald gehen musst.«

»Dann wünsche ich dir viel Glück. Wann bist du fertig?«

»Drei Stunden geht die Prüfung. Wir haben es gleich neun, also bis zwölf.«Ihr Unterricht fing später an, da ausgeschlafene Schüler bessere Ergebnisse liefern, jedenfalls bei einer Prüfung.

»Alles klar. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich nachher bitten, mich hier noch etwas umher zuführen.«

»Von mir aus. Bis später und verirre dich nicht.« Lydia musste dabei lachen und so betrat sie kichernd das Schulgebäude.

Die Zeit verging sehr schnell, jedenfalls dann, wenn das Mädchen gerade wusste, wie sie eine Aufgabe lösen konnte.

»Noch dreißig Minuten!«, gab ihre Lehrerin an. Zwei andere gingen die ganze Zeit in der Aula hin und her. Das irritierte sie schon etwas, da sie es nicht mochte, wenn sie beobachtet wurde. Auch wenn sie nicht spickte - und es auch nie machen würde - war sie trotzdem stets nervös, wenn ihr jemand über die Schultern schaute.

Sie hatte dann immer Angst kritisiert zu werden, weil sie die Aufgabe nicht konnte, obwohl sie gelernt hatte.

»Noch zwanzig Minuten.«

Lydia saß direkt am Fenster und konnte gut auf den Schuleingang blicken.

»Noch fünfzehn Minuten.«

Dann sah sie, wie Tom gerade aus der Ferne kam. Er musste die Zeit über zu Hause gewesen sein, da er seine Jacke nicht dabei hatte. Am Morgen war es noch etwas frisch gewesen, aber die Sonne schien nun sehr warm. Er trug ein T-Shirt, Jeans, Chucks und eine Base Cape.

»Zehn Minuten!«

Tom stand nun vor dem Gebäude und blickte nach oben. Als er sie entdeckte, winkte er ihr strahlend zu, sie lächelte schüchtern in seine Richtung und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Blatt, wobei ihre Wangen etwas errötet waren.

»Fünf Minuten!«

Seufzend sah sie sich ihre Aufgaben noch einmal an. Im Grunde hatte sie alles geschafft, mehr oder weniger. Zwei oder drei Aufgaben fing sie an, ohne zu beenden. Und bei manchen hatte sie nur geraten, einige gewusst und bei vielen war Glück sicherlich im Spiel, wenn es richtig wäre.

»Okay. Legt eure Stifte weg und bringt die Arbeiten nach vorne.«

Lydia packte alles zusammen und legte ihre Prüfung zu den anderen auf den Lehrertisch.

»Hey, Lydia. Wie fandest du die Prüfung?«, fragte sie eine Klassenkameradin.

»Na ja, Svenja, es ging so und euch?« Neben ihr standen noch andere Mädchen und Jungen, die aber teilweise etwas abwesend wirkten.

»Bescheuert, wer soll denn das alles wissen?« Zusammen gingen sie aus dem Gebäude.

»Uh, wer ist denn das? Der sieht gut aus! Ein cooler Junge«, bemerkte Svenja und auch die anderen sahen sich den ›Neuen‹ an. Doch er ignorierte sie und lächelte nur Lydia an.

»Hey, Lydia, wie lief es?«, erkundigte er sich direkt.

»Hi, Tom. Ach na ja, du weißt schon. So, wollen wir dann?« Sie drehte sich kurz zu den anderen und sagte: »Bis nächste Woche.«

2. Seelenverwandtschaft



Es wurde getuschelt, gekichert und natürlich gelästert - alles hinter Lydias Rücken, aber sie kannte es nicht anders.

»Ignoriere sie. Die denken immer, sie seien was Besseres«, murmelte Lydia.

»So kam es mir auch vor. Wenn jemand mit einer solchen Stimme fragt, wer das ist und daraufhin sagt, dass derjenige gut aussieht, muss man sich nichts einbilden.«

Lydia lachte dabei, fand es aber schon peinlich, dass er das mit angehört hatte.

»Du warst in der Zwischenzeit noch mal zu Hause?«

»Jupp. Woher weißt du das?« Er schmunzelte und nahm sie auch ein wenig auf den Arm, aber sie antwortete ganz ernst:

»Du hast keine Jacke mehr dabei.« Demonstrativ hielt sie dabei ihre eigene Jacke in der Hand und grinste.

»Ja, ich hab meiner Mutter noch beim Einräumen geholfen. Vater war im Museum, um alles zu regeln, und fängt dann am Montag an.«

»Hast du noch Geschwister?«, erkundigte sich das dunkelblonde Mädchen.

»Ach, die Fragestunde war noch nicht vorüber?«

»Nein, und mir fallen immer wieder Neue ein, keine Sorge«, antwortete sie lächelnd, während sie die Stufen der Schule hinab gingen.

»Ja, ich hab noch eine Schwester, 22. Sie ist aber schon ausgezogen und wohnt in Heidelberg.«

»Was macht sie da?«

»Sie studiert Grafik-Design. Wie sieht es mit dir aus?«

»Drei Brüder!«, sagte sie und rollte theatralisch mit den Augen.

Er staunte. »Drei? Oje.«

Obwohl sie ihn nicht kannte, hatte sie das Gefühl mit ihm reden zu können und erzählte, wie es damals für sie alle war. Sie war als Kind kein typisches Mädchen, sondern verbrachte ihre Zeit mit ihren Brüdern auf dem Fußballplatz, somit hatte sie genauso dreckige Sachen, wie die Jungs und ihr Vater brauchte sie, bis zu einem gewissen Zeitpunkt, auch nicht anders behandeln. Doch eines Tages wollte Steve nicht mehr, dass sie mit Fußball spielte.

Tom zog bei ihrer Erzählung eine Augenbraue hoch. Sie liefen nebeneinander, sahen sich aber selten an und so bemerkte sie auch nicht, wie seine Mundwinkel sich leicht zu einem Lächeln zogen.

»Damals wusste ich ja noch nicht, was er meinte.«

»Alles klar. Du bist halt ein Mädchen«, meinte er und schaute ihr in die Augen. Grün waren seine, wie sie feststellte. Das war ihr vorher gar nicht so bewusst gewesen.

Sie wollten beide ernst bleiben, doch dann lachten sie gleichzeitig.

»Dann hat Steve es mir erklärt und ich fing an, mich für andere Sachen zu interessieren. Wenn ich allerdings nicht gerade lernen muss oder nichts andres im Fernsehen läuft, sehe ich trotzdem Fußball«, erklärte die 15-Jährige.

»Nicht schlecht.« Tom fand sie sehr erfrischend. Sie war nicht auf den Mund gefallen und sprudelte nur so voller Energie. »Wofür interessierst du dich denn jetzt?«

»Bücher, Musik und Kunst, denke ich, aber das mag ich schon seit der zweiten Klasse. Und du?«

»Ich lese auch viel, Musik mag ich auch, Kunst - na ja, kommt drauf an, was. Ansonsten Sport«, meinte er und fuhr sich mit der Hand durch seine mittel-blonden Haare, die sehr kurz waren.

»Was für Musik hörst du?«

»Hauptsächlich Rock«, antwortete Tom. Lydia strahlte und nickte. »Was arbeiten denn deine Eltern?«

»Mein Vater ist Softwareingenieur und meine Mutter kenne ich nicht.« Er wartete und Lydia fügte hinzu: »Sie ging kurz nach meiner Geburt weg.«

»Und du hast keinen Kontakt?«, erkundigte er sich neugierig.

»Nein. Ich weiß weder, wie sie heißt noch wo sie ist«, erwiderte sie kopfschüttelnd.

»Und deine Brüder?«

»Ich glaube, für sie ist es zu schmerzlich, darüber zu reden.

Ach, ich weiß auch nicht. Als ich noch ein Kind war, hab ich meinen Vater oft gefragt. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Fragen wären unpassend und es käme so rüber, als sei ich undankbar. Seitdem lasse ich das Thema.«

Sie gingen um den Teich im Park und Tom meinte, dieser Platz gefiele ihm besonders.

»Hier, in dem Bücherladen«, sagte sie etwas später, »arbeite ich morgen einen Tag auf Probe!«

Ihr Weg führte sie quer durchs Dorf und sie erzählte ihm alle möglichen Anekdoten und Begebenheiten.

»Echt? Cool.«

»Ja, ich kenne die Ladenbesitzerin schon ewig. Als ich mich entschied, nicht das Abitur zu machen, hab ich angefangen, Bewerbungen zu schreiben.

Und Madlen meinte gestern zu mir, dass ich gute Chancen hätte.«

»Glückwunsch.«

»Danke«, sagte sie freudestrahlend.

»Gut, wenn du weißt, was du machen willst. Ich hab mich auch schon beworben. Aber noch steht es offen, ob ich nicht vielleicht doch mein Abi mache«, sagte er nachdenklich.

»Willst du auch studieren?«

»Das weiß ich ja noch weniger! Wenn es nach meinen Eltern ginge, schon. Aber ich weiß es noch nicht.

Wenn ich keine Ausbildung finde, mache ich das Abitur oder ich geh auf eine Fachoberschule - je nach dem, wo ich einen Platz bekomme -, danach kann ich immer noch sehen. Es war gar nicht so einfach, alles noch zu schaffen, zwischen Prüfungen und Umzug. Ursprünglich hätte ich bei uns gerne was gemacht, aber hier kenne ich mich ja nicht aus und das ist echt blöd.«

»Ich verstehe. Es ist ja alles im zeitlichen Rahmen. Noch ist nichts entschieden«, versuchte sie, ihn zu trösten. »Meine Familie ist nicht so begeistert von der Idee. Im Gegenteil«, seufzte sie und erzählte ihm davon. »Ich hatte trotzdem einen schönen Nachmittag mit Steve, den du gesehen hast.«

»Wie viel älter ist er?«

»Fünf Jahre und zwei Wochen, er hatte erst Geburtstag!

Michael ist allerdings schon 28, Sam ist 18«, erklärte Lydia.

»Ich finde es nicht schlimm, wenn jemand nicht studieren will. Was ist denn schon dabei? Gerade in dieser Zeit sollte man eher vorsorgen und so planen, dass es wirklich passt. Mal angenommen, wir würden noch bis zur zwölften zur Schule gehen, danach noch jahrelang studieren.

Die Möglichkeit, dass diese Arbeit dann nicht mehr so gebraucht wird, ist durchaus da. Dann hat man einen super Abschluss, der nicht billig war, steht am Ende aber mit nichts da, außer eventuellen Schulden.«

»Genau das denke ich auch«, bestätigte Lydia erleichtert und lächelte ihn an.

Sie bogen in ihre Straße und standen auch schon vor ihren Häusern.

Das Wetter war sehr schön und beide genossen diesen kleinen Spaziergang.

»Magst du noch mit rein kommen?«

»Das wollte ich dich auch gerade fragen, Lydia. Du könntest mir beim Einräumen helfen!«

»Klar. Ich sag nur mal eben meinem Vater Bescheid.« Tom stellte sich direkt vor und dann gingen beide zu ihm.


Als sie weg waren, betätigte Sascha einige Telefonate ...


»Meine Mutter scheint schon wieder weg zu sein«, bemerkte Tom.

»Schönes Haus. Zwei Jahre stand es leer, das war schade. Die Leute, die davor hier gewohnt haben, mussten umziehen. Der Mann hat woanders eine Arbeit gefunden. Sie waren ganz nett.«

»Warst du im Haus?«

»Einmal, aber nur in der Küche.«

»Dann will ich dich mal herum führen.« Direkt links neben der Eingangstür befand sich die Küche.

»Ihr habt ja einen Kamin! Das ist sicherlich gemütlich, wenn es draußen kalt ist«, stieß Lydia überrascht aus, als sie sich das Wohnzimmer ansah.

»Meine Mutter wollte unbedingt einen. In unserem alten Haus hatten wir auch keinen.«

Dann deutete er auf eine Tür, auf der ›Gäste WC‹ stand und erklärte: »Das Renovieren hat eine Firma übernommen. Wir haben denen gesagt, wie wir es haben wollen.«

»Ich glaub, ich hab doch zu viel gelernt in letzter Zeit. Ich hab absolut nichts mitbekommen!«, grübelte sie. Sie gingen die Treppe hoch und er erzählte ihr alles Mögliche.

Die Arbeiten am und im Haus haben über einen Monat gedauert, da aber Lydia meist über Kopfhörer Musik hörte - beim Lernen half es ihr, die äußeren Störfaktoren abzuwehren - bekam sie vom Lärm nichts mit.

»Okay, schnell raus hier, sonst werde ich noch neidisch«,

sagte sie mit einem Grinsen, als sie das große luxuriöse Badezimmer ansah.

»Wieso neidisch?«

»Der Spiegel ist ja gigantisch«, gab sie nur als Antwort. Sie schlenderten einen Flur entlang und er zeigte ihr, in welcher Richtung das Schlafzimmer der Eltern lag, gingen aber nicht hinein.

»Wir haben noch ein Gästezimmer und das hier ist das von meiner Schwester. Aber es ist noch nicht wirklich eingerichtet, und dient eher als Abstellraum, für die leeren Kartons, bis sie abgeholt werden. Ich schlag mal vor, wir beenden die Führung und gehen in mein Zimmer.«

»Blau-gelbe Wände!«, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, als er seine Tür öffnete.

»Ja, ich fand es ganz passend.«

»Sieht gut aus, meins ist in denselben Farben.« Sie sah sich weiter um, traute sich aber irgendwie nicht, ins Zimmer direkt einzutreten.

»Was ist?«, fragte Tom nach.

Ja, was war? Sie wusste es nicht. Sie dachte an die Romane von Jane Austen, was ihr aber doch unpassend erschien.

»Traust du dich nicht?« Schulterzuckend und lächelnd betrat sie den Raum und sah sich weiter um. Das Fenster war direkt über dem Bett. In einer Ecke standen eine Couch und zwei Sessel, dazu ein Tisch und ein großer Flachbildfernseher. Auf der anderen Seite war der Computer. Das Bett stand in der Mitte davon. Er hatte einen großen, hellen Kleiderschrank, drei Regale, ebenfalls in derselben Farbe - beige. Die Regale waren voll mit Büchern, CDs und DVDs. Er mochte wirklich Rockmusik, aber wie es aussah auch Brit Pop und Pop allgemein. Seine Bücher hatten aber keine bestimmte Richtung, alles war dabei: von Austen bis Shakespeare, über Sparks und King, bis hin zu Grisham und Patterson.

»Eine interessante Sammlung hast du«, bemerkte Lydia staunend.

»Danke, ich hab alles erst einmal nur so eingeräumt. Meine Mutter wollte unbedingt, dass die Kartons aus den Zimmern verschwinden. Zum Sortieren bin ich noch nicht gekommen.«

»Ach so. Hatte mich schon gewundert, da kein roter Faden zu erkennen war. Also, entweder alphabetisch oder nach Genre oder beides gemischt.«

»Du kennst dich wohl damit aus?«

»Klar!«, sagte sie und schaute sich die Regale genauer an.

»Magst mir helfen?«, fragte Tom sie.

»Erkläre mir, wie du sie sortieren willst.«

Sie setzten sich im Schneidersitz auf den Boden, der durch einen flauschigen Teppich sehr weich und warm war, und begannen die CDs, alphabetisch nach Genre und Erscheinungsdatum, einzuräumen.

Dasselbe machten sie bei den anderen zwei Regalen.

»Liest du denn viel?«, erkundigte sich Lydia anschließend.

»Sieht man das nicht?«

»Bücher zu haben, bedeutet nicht gleich, dass man sie alle selbst gelesen hat«, konterte Lydia.

»Touché.« Sie setzten sich nun einander gegenüber hin.

»Ich lese relativ viel, aber ich hab nicht alles gelesen, was hier steht. Manche fing ich an, legte sie aber recht schnell wieder weg, andere hab ich verschlungen und mehrmals gelesen und zwei oder drei muss ich noch lesen.«

»Wie fandest du ›Das Kloster Northanger Abby‹?«

Thomas nahm das Buch und sah es sich an, bevor er auf die Frage antwortete. Eigentlich war es eher eine Fangfrage, nie hätte sie geglaubt, dass er es wirklich gelesen hat. »Anders«, sprach er bedächtig.

Natürlich war es anders.

Aber das reichte ihr als Antwort nicht, also hob sie nur eine Augenbraue und wartete, ob er vielleicht doch noch was ergänzen würde. »Man merkt ziemlich schnell, dass es im Grunde ihr erstes Werk war. Auch wenn ›Verstand und Gefühl‹ als erstes fertig wurde, so fing sie ja das Kloster, in der Rohfassung sozusagen, noch vorher an.«

Er kannte sich aus. Lydia war begeistert und fügte zudem, was Tom sagte, hinzu: »Was ich allerdings klasse finde. Austen war dabei so voller Zweifel. Lohnen sich Romane? Lesen die Leute vielleicht doch lieber Schauerromane oder kann man es sich als Frau überhaupt leisten zu schreiben? Ich liebe ihre Bücher! Heute heiraten die Leute eher mit Ende zwanzig. Jeder wundert sich und beschreibt eine Ehe als gescheitert, wenn man bereits mit 20 den Partner fürs Leben gefunden hat. Doch damals war es eher so, dass man mit 28 Jahren schon fast zu alt war, jedenfalls als Frau. Ein Mann sollte erst einmal seinen eigenen Hausstand gründen und gut verdienen, dann galt er meist auch als gute Partie.«

Tom nickte. Lydia zuckte mit den Schultern, als sie merkte, dass sie zu schnell geredet hatte, und fühlte, wie ihr Rücken langsam durch das lange Sitzen im Unterricht und auch hier, schmerzte.

»Wer ist denn deine Lieblingsfigur?«, wollte er nun wissen.

»Schwer zu sagen.« Lydia zuckte mit den Schultern und stütze sich mit ihren Händen nach hinten auf.

Sie hatte ein lilafarbenes T-Shirt mit V-Ausschnitt an und eine kurze Jeans. In dieser Position streckte sie versehentlich ihre Brust nach vorn. Sie hatte eine gute Figur, ohne viel dafür getan zu haben. Tom beobachtete sie. Als sie es merkte, setzte sie sich wieder aufrecht hin.

»Ich tippe auf ›Elizabeth Bennet‹«, mutmaßte er, als er sich wieder konzentrieren konnte.

»Gut möglich«, nachdenklich überlegte sie weiter. Sie könnte stundenlang über die Romane dieser Autorin sprechen, aber sie wollte einfach noch nicht alles ›raushauen. »Zudem denke ich, dass ›Mister Darcy‹ ein gutaussehender Mann war. Und du?«

»Von den Frauen mag ich Elizabeth sehr gerne und von den Männern wäre ich wohl eher wie ›Mister Knightley‹ oder ›Bingley‹« Er blickte ihr dabei direkt in ihre grünen Augen und sie bekam eine leichte Gänsehaut.

»Die zwei sind doch total unterschiedlich!«, stieß sie hervor.

»Beide sind verliebt, trauen sich aber nicht, es zu sagen«, begann er und sprach leidenschaftlich, wie er es meinte. Das Mädchen saß da und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Als sie merkte, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte, biss sie sich auf ihre Lippen, hörte aber weiterhin aufmerksam zu. Sie spürte ein ziehen in ihrem Bauch und wunderte sich darüber. Wollte er sie beeindrucken oder meinte er es wirklich so? Es schien beinahe so, als hätte er die Bücher nicht nur einmal gelesen.

»‹Fanny‹ ist aber auch eine tolle Heldin, finde ich!«, bemerkte sie, um von dieser Rede abzulenken.

»Ja, das ist sie. Lieb und chaotisch. Aber ich weiß nicht, ob sie eine Heldin in dem Sinne darstellt. Sie ist zurückhaltend und liebt seit etlichen Jahren ihren Cousin.«

»Ja, aber das war früher durchaus legitim. Nichts Verwerfliches.«, meinte sie, verstummte dann aber. Sie wollte nicht zu viel erzählen. ›Mansfield Park‹ war das Buch, was sie lange beschäftigt hatte.

»Das mag sein. Aber ich fände es trotzdem seltsam!«, meinte er.

Schulterzuckend gab sie zu: »Eigentlich ist es auch romantisch. ›Edmund‹ ist ihr bester Freund.

Es gibt schlimmeres als in seinen besten Freund verliebt zu sein.«

Oh, arme Lydia.

Wenn die Gefühle nicht erwidert werden, gibt es nichts Schlimmeres.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über die Bücher von Jane Austen, die von 1775 bis 1818 lebte.

»Sie hat im Grunde bis zu ihrem Tode geschrieben«, meinte Lydia nachdenklich und wusste, dass das Thema vorerst beendet war, aber sie würde gerne irgendwann wieder darauf zurückkommen. Sie hätte nie geahnt, dass ein Junge so etwas lesen und auch zugeben würde.

Diese Jugendlichen kannten sich wirklich gut aus, auch wenn sie manches etwas durcheinanderbrachten.

»Könnte man so sagen, ja.«

Lange sahen sie einander in die Augen und erkannten darin, eine Veränderung. Diese Gemeinsamkeit, das Wissen darum, war einzigartig.

Sie löste sich aus dem Schneidersitz, weil sie Schritte hörte.

»Ah, meine Mutter ist wieder zu Hause. Ich sehe mal nach.«

Kaum hatte er es gesagt, öffnete sich seine Tür.

»Hier bist du Tom. Oh, entschuldige, du hast ja Besuch. Wer ist deine Freundin?«, erkundigte sie sich, aber wirkte keines Wegs überrascht. Es schien, als wüsste sie bereits wer das Mädchen war.

»Sie wohnt im Haus nebenan, Lydia Schaf.«

»Guten Tag, Frau Hafe!«

»Hallo, Lydia. Ich habe Kuchen mitgebracht, wollt ihr runter kommen?« Tom war immer für ein Stückchen Kuchen zu begeistern und so gingen sie mit in die Küche.

Lydia war es etwas peinlich, aber sie musste ablehnen.

»Tut mir leid, ich bin laktoseintolerant.«

»Das macht nichts«, sagte Toms Mutter lächelnd. »Der Kuchen ist gänzlich ohne Milchzucker. Tom leidet auch darunter.« Sie sah ihren neuen Freund an und war erstaunt.

»Ja, wir haben es vor einigen Monaten erfahren und seitdem geht es mir besser. Meine Mutter hat sich umgeschaut, gestern schon, und in der Stadt einen Konditor gefunden, der in seinem Sortiment solche Leckereien besitzt. Das macht vieles leichter, da ich ungern auf Kuchen oder Torte verzichten will«, erklärte der junge Mann fröhlich.

Lydia war überrascht und gab zu: »Als ich herausfand, dass im Puddingpulver nichts ist, was ich nicht vertrage, war ich total begeistert. Denn so kann ich mir schnell einen mit Soja- oder mit laktosefreier Milch machen.«

»Ja, da muss man auch erst hinter kommen. In einigen Sachen vermutet man so was und in anderen gar nicht und dann ist es manchmal genau umgekehrt«, erwiderte Tom.

»Darf ich dir denn ein Stück anbieten?«, fragte Frau Hafe.

»Aber nur, wenn wirklich genug da ist!« Lydia wusste ja nicht, wie viel so was kostet, und wollte niemandem etwas wegessen.

»Du musst doch aber Hunger haben! Als ich meine Matheprüfung hatte, war ich hinterher so ausgelaugt, dass ich den Kühlschrank plünderte.«

»Ach, du hattest heute Prüfung?«

»Ja. Ich hab zwischendurch eine Banane gegessen und heute gut gefrühstückt.« Sie errötete vor lauter Fürsorge.

»Mmh, also wir haben wirklich genug davon. Toms Vater isst keinen Kuchen und ich hab zufällig zu viel geholt, so dass auf jeden Fall mehr als reichlich übrig bleibt.«

Lydia lächelte und freute sich über den glücklichen Zufall. Seit Monaten hatte sie schon keine Zeit mehr gehabt, selbst zu backen.

»Gut, wenn das so ist, kann ich wohl nicht nein sagen.

Dankeschön, Frau Hafe.«

Natürlich war Lydia hungrig. Sie wollte es nur nicht zugeben.

Franziska Hafe fragte Lydia alles, was auch schon Tom wissen wollte.

»Du Ärmste! Es muss schlimm sein, seine Mutter nicht zu kennen.«

»Manchmal fehlt sie mir, denke ich. Wenn ich Fragen habe, zum Beispiel, die mir meine Brüder unmöglich beantworten können. Aber ansonsten geht es.«

»Hast du dann jemand anderen, den du fragen kannst?«

Sie schüttelte verlegen den Kopf.

»Nein, eigentlich nicht. Stephen, der Zweitälteste, hat mir die ›Bravo‹ hingelegt, als ich noch sehr jung war und gemeint, ich solle sie lesen.«

Alle lachten. »Meine Klassenkameradinnen konnte ich ja auch nicht fragen, da sie mich dann ausgelacht hätten. Also nahm ich den Rat meines Bruders zu Herzen und las eben diese Zeitschrift, wobei mich eher die Stars interessierten«, gab sie lachend zu.

»Möchtest du denn etwas Besonderes wissen?«, wollte Toms Mutter wissen.

»Oh, äh, nein, danke.«

»Wie war es denn für deinen Vater?«, erkundigte sich Franziska weiter.

»Drei Jungs und ein Mädchen zu haben?« Lydia dachte darüber nach und inspizierte in der Zwischenzeit die Küche, die wirklich wundervoll aussah, marmorierte Arbeitsflächen, ein gigantischer Kühlschrank, wie man ihn eigentlich nur aus Amerika her kennt, und allgemein bot dieser Raum viel Platz, um mit der gesamten Familie an Weihnachten Plätzchen backen zu können. Warum sie plötzlich an Weihnachten denken musste, wusste sie nicht. Sie lächelte Frau Hafe an und beantwortete die Frage von Frau Hafe.

»Und wie alt ist der Älteste?«

Lydia erzählte freudestrahlend und wild gestikulierend über ihre Familie. Sie war stolz auf ihre Brüder.

»Der Altersunterschied ist ziemlich groß«, sagte Frau Hafe nachdenklich und betrachtete Lydia dabei sehr mitfühlend.

»Das stimmt! Mein Vater war erst 20 und nach einer Pause hat er sich weiter seinem Studium gewidmet«, erklärte Lydia. Frau Hafe hörte ihr aufmerksam zu.

»Ich glaube, als meine Mutter fortging, hat es meinen Vater sehr zurückgeworfen. Er nahm erst einmal Vaterschaftsurlaub, danach hat er seine Arbeit oft von zu Hause aus erledigt, oder mich mit ins Büro genommen, dort gab es eine Krabbelgruppe. Jedenfalls hat er es mir mal erklärt, wie er das alles angestellt hat, als ich ihn fragte«, meinte sie nachdenklich und bemerkte, wie sich etwas im Blick von Frau Hafe veränderte. Doch erzählte sie weiter und versuchte zu erklären, wie ihr Vater sich um alles kümmerte und was ihre Brüder für sie machten, als diese alt genug waren. Kindergarten, Schule. Irgendwie haben sie es auch ohne Mutter geschafft. Es konnte nur klappen, weil sie zusammenhielten. Ihre Brüder ließen sie nicht im Stich, sondern kümmerten sich um sie.

Sie trank etwas Kaffee und nahm eine Gabel voll Kuchen, er war sehr lecker und sie fand es lustig, dass Tom dasselbe durchmachte. Dann fügte sie hinzu: »Es kommt bestimmt so rüber, als sei meine Mutter herzlos.

Aber ich denke mal, sie war nur überfordert. Drei Jungs sind sicherlich stressig. Und als der jüngste dann schon soweit war, um in die Kindergrippe zu gehen, war ich plötzlich unterwegs. Und alles fing von vorne an.

Meine Mutter hatte keine Zeit für sich, sie war immer nur für die Kinder da und hat ihr Leben hinten angestellt«, versuchte sie zu erklären. Manchmal konnte Lydia nicht anders, sie verteidigte jene, die ihr Schmerzen zufügten, auch wenn es unbewusst war.

»Wie kommst du darauf?«, wollte Tom wissen.

»Nun, ich habe nie ein schlechtes Wort über sie gehört. Nie hat sich jemand in meiner Familie beklagt und wenn, dann nicht in meiner Gegenwart. Ich glaube oder hoffe, dass sie mich vermisst, aber nicht zurückkommen kann. Vielleicht hat mein Vater sogar noch Kontakt zu ihr, wer weiß«, plapperte sie und schaute Tom mit ihren großen Augen an, als wollte sie sagen: ›Ich hoffe, dass es einfach so ist, wie ich es mir denke.‹

»Sicherlich. Keine Mutter kann ihr Kind vergessen. Sie wird bestimmt ihre Gründe gehabt haben«, sagte Franziska in einem Ton, der mütterlich klang. Lydia zuckte mit den Schultern.

Sie dachte oft darüber nach, hatte aber noch nie so ausführlich davon geredet. Zu Hause vermied sie das Thema. Sie sah zur Uhr an der Wand, es war fast vier.

»Musst du los?«, hakte Frau Hafe nach.

»Nein, Entschuldigung. Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, ständig auf die Uhr blicken zu müssen. Ich muss erst zum Abendbrot zu Hause sein.«

»Dann ist es ja gut.«

Sie nickte.

»Wollen wir wieder hoch?«, fragte Tom.

»Okay. Danke für Kaffee und Kuchen!« Toms Mutter lächelte und beobachtete sie so lange, bis sie die Tür von Toms Zimmer hörte.

Sie atmete tief durch, nahm das Telefon in die Hand und telefonierte so lange, bis sie erneut die Tür hörte.


»Deine Geschichte ist irgendwie traurig!«, bemerkte er, als sie die Stufen hoch gingen.

»Warum traurig?«

»Ich weiß auch nicht«, meinte er und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, »du wächst ohne Mutter auf, dein Vater arrangiert sein Leben um dich herum und deine Brüder müssen, obwohl sie selbst noch jung sind, auf dich aufpassen.«

»Ja, aber ich glaube, sie haben es gerne gemacht.

Ich hab nie angenommen eine Last für sie zu sein. Zumindest hab ich nie etwas gemerkt!«

»So meinte ich das nicht!« Er setzte sich auf die Couch in seinem Zimmer, sie sich in einen Sessel.

»Wie dann?«, wollte sie wissen und war gespannt, was er zu sagen hatte. Tom musste erst einmal nach den richtigen Worten suchen und runzelte dabei die Stirn, zuckte mit den Schultern und meinte, er wäre selbst überfordert, wenn er in einer ähnlichen Situation wäre. Natürlich stimmte das auch, wie Lydia wusste. Die Jungs brauchten damals auch ihre Freiräume. Sie wusste aber auch, dass sie pflegeleicht war und nie viel verlangt hatte. Sie war selig, wenn sie einfach im Gras saß und ihren Brüdern zu sehen konnte. Sie malte, las oder schlief.

Ihre Stimme zitterte etwas, während sie dies alles erzählte.

Sie war sich sicher, dass es niemand bereuen würde.

Manchmal überkam sie aber eine Welle der Unsicherheit. Ihre Träume signalisierten ihr dann, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich deplatziert.

»Steve bedeutet dir sehr viel, oder?«

»Er ist für mich da. Die andren sind ihre eigenen Wege gegangen, aber Steve besucht mich immer noch, sooft es geht und wir telefonieren jeden Tag.«

»Das ist schön. Ich rede wenig mit meiner Schwester. Jenny geht lieber auf Partys. Sie ist eben eine richtige Studentin.«

»Sag mal«, meinte Lydia nach einer kurzen Pause, »ist es nicht eigenartig, dass wir uns so gut unterhalten können und scheinbar auch verstehen?«

»Du meinst, weil wir uns erst seit heute Morgen kennen?«

»Jupp!«, bestätigte Lydia.

»‹Eigenartig‹ würde ich es nicht nennen, aber ja, schon seltsam«, sagte Tom.

»‹Seltsam‹ ist nichts anderes wie ›eigenartig‹!«, lachte sie.

»Gut, ja. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide Jane Austen Romane lesen und eine Laktoseintoleranz haben!«

»Das wussten wir aber heute Morgen noch nicht, Tom, und da haben wir uns auch schon unterhalten!«

»Vielleicht liegt es ja trotzdem an der Denkweise. Wenn man Austen liebt und viel gelesen hat, dann denkt oder redet man auch fast in dieser Sprache. Automatisch schwimmt man auf einer Wellenlänge.«

Sie machte große Augen. Flirtete er mit ihr?

»Wir schwimmen also auf einer Wellenlänge?«

Beide erröteten.

»Ich denke schon.« Er lächelte sie schüchtern an.

»Ich sag ja, es ist eigenartig«, meinte sie nachdenklich.

»Wäre es aber nicht, wenn es in einem Roman stünde!«, bemerkte der dunkelblonde Junge.

»Nein, das nicht«, sagte sie seufzend und ignorierte den Wunsch, ihre Hand durch seine kurzen vollen Haare gleiten zu lassen. Sie glänzten und würden sicherlich herrlich duften. Sie errötete bei dem Gedanken, was Tom lächeln ließ.

»Was ist denn schon dabei? Ich bin jedenfalls froh, gleich jemanden gefunden zu haben, mit dem ich mich gut verstehe. Hätte ich nicht geglaubt. Grad hergezogen, meine Freunde in Köln gelassen, und schon lerne ich jemanden kennen, mit dem ich mich unterhalten kann.«

»Das stimmt. Und wenn du magst«, sie sah auf die Uhr, »kannst du mit zum Abendbrot zu uns kommen und dann lernst du noch Sam kennen.«

»Das ist nett, aber ich denke mal, du hast genug zu tun mit der Vorbereitung für morgen.«

Stimmt!

Lydia musste ja Probearbeiten. Sie freute sich total darauf.

»Da hast du recht. Ich will im Internet lesen, was es so alles für Bücher gibt. Damit ich schon mal auf Kundenfragen oder auf Fragen von Madlen vorbereitet bin.

Ich kenne zwar einige Autoren und Verlage, aber nicht die komplette Bestsellerliste. Das will ich noch ändern. Ich bin immer gerne vorbereitet. Schön, dass du das erwähnt hast. Dir geht es wohl auch so?«

»Ja! Vorbereitung ist immer alles. Ich mache es nicht anders. Ich werde heute auch Bewerbungen schreiben. Noch ist Zeit, haben ja erst April.«

»Weißt du schon als was beziehungsweise wo? Ich kann mir gut vorstellen, dich in einem Buchladen zu sehen oder in einem Musikladen, oder das du auf eine Fachoberschule gehst, Tom.«

»Fachoberschule? Welche Richtung?«

»Ich hab gelesen, nicht weit von hier, gibt es eine Schule, bei der man mit Sprachen zu tun hat: Deutsch, Englisch,

Französisch und natürlich auch mit Literatur. Wenn ich keine Lehrstelle finde, würde ich mich da bewerben.«

»Dann werde ich mir das Mal ansehen.«

»Tue das und ich mach mich los.«

»Es ist doch noch nicht sechs«, bemerkte Tom.

»Ja, aber Sam hasst es, den Tisch zu decken«, erwiderte sie lachend.

Tom brachte sie zur Tür. Lydia verabschiedete sich auch von der Mutter, die das Telefon hinter ihrem Rücken versteckte.


Sie brauchte nur wenige Sekunden, dann war sie schon zu Hause.

»Na, Schwesterchen, wie war die Prüfung?«, erkundigte sich Sam.

Sie verzog ihr Gesicht. »Doof. Ich glaube, ich hab es verhauen«, sagte sie geknickt und erinnerte sich an die ein oder andere Aufgabe, die ihr irgendwie total merkwürdig und vollkommen unlogisch erschienen.

»Ja, es kann halt nicht jeder ein Genie in Mathe sein.«

»Ha ha! Sehr witzig, Sam.« Sie lachten beide. »Ist Papa noch nicht da?«, fragte sie dann.

»Mmh? Nein, er kommt aber sicher gleich. Du kannst ja schon mal das Abendessen kochen.«

»Hast du noch nicht?«

»Nein. Ich weiß, ich weiß«, er hob seine Hände, als er ihren Blick entdeckte, »ich bin eigentlich die Woche an der Reihe, aber sorry, ich hatte so viel zu tun gehabt.« Lydia blähte ihre Nasenflügel auf, doch dann schüttelte sie nur den Kopf. »Ich übernehme nächste Woche für dich, versprochen. Steve kommt übrigens morgen vorbei. Er will übers Wochenende bleiben.«

»Super! Dann lernt er ja Tom kennen!«, sagte sie freudestrahlend.

»Ach, unseren Nachbarn. Stimmt ja, Vater meinte, bevor er ging, dass du drüben wärst. Wie ist er so?«

»Ich sage es dir, wenn du mir beim Kochen hilfst!«

»Na gut, Schwesterchen«, seufzte er.

Es sprudelte schließlich einfach aus ihr heraus und sie berichtete ihm, was alles Geschehen war - auch wie das Haus ausgesehen hat und wie cool Toms Zimmer war.

»Ach herrje, du bist ja verknallt.« Sammy betrachtete seine kleine Schwester und musste schmunzeln. Sie wirkte niedlich, wenn sie sich so verhielt.

»Was? Nein!«, wehrte sie ab und wurde rot dabei.

»Warum hast du ihn nicht zum Abendessen eingeladen?«

»Hab ich. Er erinnerte mich, dass ich morgen im Buchladen arbeiten werde und dass ich mich sicherlich vorbereiten will. Und da hatte er Recht. Aber er kommt morgen zu uns und will dich auch unbedingt kennen lernen«, sagte sie sehr schnell.

»Schön. Mal sehen, ob er wirklich ein solcher Traumprinz ist.«

»Was, wie? Traumprinz? Das hab ich nicht behauptet!«, stammelte Lydia.

»Musstest du nicht. Es ist schön, wenn du dich verliebt hast.«

Er ärgerte sie immer weiter und dabei vergaß er ihr beim

Kochen zu helfen, doch freute er sich wirklich für sie. Manchmal fragte er sich, wann sie überhaupt so alt geworden war, dass sie sich für Jungs interessierte, aber er würde es sich für sie wünschen.

Sie brutzelte einige Schnitzel in der Pfanne, Pommes hatte sie zuvor in den Ofen gemacht, und bereitete einen Salat vor.

Nachdem sie auch ihrem Vater beim Abendessen von der Familie Hafe erzählt hatte, ging sie in ihr Zimmer.

Doch während sie berichtete, entging ihr der Gesichtsausdruck ihres Vaters und dieser wirkte nicht gerade glücklich ...


Sie erkundigte sich im Internet und machte sich Notizen.

Als Lydia die Jalousie in ihrem Zimmer runter machen wollte, sah sie aus dem Fenster und blickte genau in das von Tom. Er war gerade dabei sich umzuziehen, als auch er sie bemerkte. Er öffnete das Fenster und sie tat das gleiche.

»Hey, ich wusste gar nicht, dass unsere Zimmer gegenüber liegen«, staunte er.

»Ich auch nicht und es hätte peinlich werden können, wenn wir beide es nicht gleichzeitig bemerkt hätten.«

Er lachte. »Oh ja. Aber irgendwie ist es cool.«

»Das du spannen kannst, wenn ich unachtsam bin?«, sagte sie sarkastisch.

Er grinste schelmisch. »Nein, dass wir so noch reden können, ohne groß schreien zu müssen.«

Die Häuser standen nicht mal zehn Meter voneinander entfernt.

Trotzdem war es schon unangenehm. Tagsüber zog sie sich ja in ihrem Zimmer auch um und nun musste sie aufpassen.

»Ja, klar. Notiz an mich: Gardinen aufhängen, die blickdicht sind!«, sagte sie laut.

»Ich guck dir schon nichts weg«, grinste er.

»Mmh, Männer sind alle gleich!«, konterte sie.

»Was machst du jetzt, Lydia?« Er beobachtete sie ganz genau und atmete tief durch. Die frische Luft tat ihm gut, denn seine Gedanken wirbelten umher und er konnte sie nicht fangen.

»Ich will gleich duschen gehen und du?«

»Meinen Schlafanzug anziehen und dann noch etwas lesen.

Wie lange duschst du denn?«

»Da mein Bruder bereits weg ist und nicht mehr drängelt, dass ich mich beeilen muss, weil er noch sein Haar stylen will, kann ich mir Zeit lassen.« Eigentlich hatten sie zwei Badezimmer, aber das andere war nur für Sascha.

»Ich lass mein Fenster auf, dann kannst du Bescheid sagen, wenn du wieder da bist.«

»Okidoki!«

Tom schaute noch einige Sekunden in ihr Zimmer. Dann setzte er sich auf sein Bett und las.

Eine Viertelstunde später hörte er Pfiffe.

»Ah, schon fertig?«

Er hatte in der Zwischenzeit einen blauen Schlafanzug angezogen. Lydia trug einen kurzen Pyjama mit einem Aufdruck, zog aber eine Strickjacke darüber, da es schon frisch war.

»Schickes Nachtzeug!«, sagte er und lächelte sie dabei an. Da auch ihr Bett am Fenster stand, konnte sie es sich bequem machen und ihre Arme auf dem Fenstersims verschränken.

»Danke! Was liest du?«

»Ach, nur eine Sportzeitschrift. Und du die ›Bravo‹?«

»Das fandest du bestimmt lustig, als ich davon erzählt habe, oder?«

»Jupp! Aber hey, Aufklärung ist wichtig. Hast du denn alles erfahren, was man wissen muss?«

Sie zuckte mit den Schultern. ›Typisch Mann‹, dachte sie.

»Es ging mir ja nicht darum!«, erwiderte sie und lachte etwas nervös.

Er grinste. »Dachte ich mir. Ich wollte nur einen Witz machen, entschuldige. Ich hab ja auch eine Schwester und diese hat sich oft im Bad eingeschlossen oder lange mit meiner Mutter geredet und mich dabei immer weggeschickt. Besonders schlimm waren ihre Launen.«

»Ich glaube, Steve musste auch schon oft genug eine Attacke von mir ertragen, wenn ich mal zickig war. Tja, so sind wir Frauen halt. Aber wir haben auch unsere guten Seiten!«

»Welche denn?«

Sie schaute ihn mit einem bösen Blick an.

»In einem Haus voller Männer muss man lernen, sich durchzusetzen. So festigt sich auch ein Charakter. Ich glaube, durch meine Brüder versteh ich euch Jungs besser. Was mein Vorteil ist, denn ich durchschaue schnell was.

Ich bin aber auch sehr tolerant und übersehe gerne mal irgendwelche Fehler!«, antworte sie und zwirbelte dabei eine noch feuchte Haarsträhne mit ihren Fingern.

»Das ist sehr gut. Obwohl ich nicht weiß, welche du meinst!«

»Nein, natürlich nicht.«

Er wehrte ab. Beide lachten.

»Was liest du denn zur Zeit?«, wollte Tom nun wissen.

»Ich war gestern mit Steve im Buchladen und er hat mir zwei Bücher geschenkt, die ich aber noch nicht angefangen habe, zu lesen.« Sie nannte die Titel.

»Such dir eins aus und lies es vor. So werden wir beide müde, genießen diese schöne Luft und verbringen noch den Abend zusammen.«

Die Idee gefiel ihr.

»Okay, aber vorher muss ich noch mal ins Bad.«

»Ich auch!«

Wenig später stellte sie eine kleine Lampe so hin, dass sie genug Licht hatte. Obwohl ja die Straßenlaternen hell waren, wollte sie aber ihre Augen nicht unnötig belasten. Dann schlug sie das Buch auf und begann zu lesen. Zum Glück wohnten sie in einer sehr ruhigen Gegend.

So brauchte sie nicht schreien. Das Zimmer ihres Vaters lag eh auf der anderen Seite und Sam war nicht da. Einmal hatte sie ausprobiert, wie laut sie eigentlich das Radio machen konnte, ohne dass ihr Vater sich gestört fühlte. Sie war mehrfach hin- und hergelaufen. Am Ende war sie zufrieden, denn sie konnte es relativ laut drehen. Auch unten, im Wohnzimmer, hörte man es nicht.

»Ach, übrigens, bevor ich es vergesse«, fiel ihr zwischen zwei Kapiteln ein, »Steve kommt morgen zu uns. Er will bis Sonntag bleiben und Sam meinte, ich soll dich auf jeden Fall einladen!«

»Schön, klar, ich komme gerne vorbei. Ich wollte sowieso fragen, ob ich morgen Nachmittag zu dir kommen kann.

Wie lange musst du eigentlich arbeiten?«

»Von neun bis zwei oder so. Wundere dich aber nicht, wenn die Jungs mich aufziehen. Ich denke mal, sie werden mich auch mit oder wegen dir necken«, erklärte sie.

»Alles klar.« Er musste ein Grinsen unterdrücken.

»Ich denke mal, sie werden nicht glaube, dass wir nur Freunde sind.«

»Sind wir?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Glaub schon. Wie du schon bemerkt hast, wir schwimmen auf einer Wellenlänge. Und ich nehme an, wir können uns schon als Freunde betrachten, da wir viel übereinander wissen. Ach ja, und du hast mich schon im Pyjama gesehen!«, lachte sie.

»Dann sind wir auf jeden Fall Freunde«, bestätigte Thomas.

»Meinst du nicht?«

»Doch, klar. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du das auch schon so siehst.«

Sie zuckte mit den Schultern. Sie unterhielten sich über die merkwürdigsten Dinge, aber es passte einfach und sie fühlte sich wahnsinnig wohl in seiner Gegenwart.

»Warum auch nicht.« Lydia musste plötzlich gähnen und Tom sah erschrocken auf seine Wanduhr.

»Oh, schon kurz vor elf. Du musst langsam schlafen.«

»Ja, das denke ich auch. Und du? Liest du noch?«

»Ich werde auch gleich schlafen gehen.«

Sie lächelte.

»Gute Nacht, Tom. Bis morgen!«

»Schlaf schön, Lydia und viel Spaß und Glück morgen.«

»Danke!« Sie schloss das Fenster. Zog ihre Strickjacke aus, ohne ans Licht zu denken, und machte dann die Jalousie runter, aber nicht ganz.

Einen Spalt ließ sie offen. Sie schaltete das Licht aus. Schlafen konnte sie aber noch nicht. Sie schaute durch den kleinen Schlitz zu Tom rüber und sah, dass auch er ab und zu zu ihr spähte. Dabei trafen sich ihre Blicke und sofort verkroch sich Lydia unter ihre Bettdecke. 3. Ein Tag, der alles ändert



Ihr Wecker klingelte um 7 Uhr 30.

Lydia machte die Jalousie hoch und öffnete das Fenster, sog die frische und kühle Luft ein und ging schließlich nach unten, um Kaffee aufzusetzen. Ihr Vater schlief am Wochenende immer bis 8 Uhr, während Sam erst nachts nach Hause kam und nicht vor Mittag aufstand.

Kurz bevor sie in die Küche kam, drang bereits der Duft von frischem Kaffee zu ihr durch und sie wunderte sich.

»Guten Morgen, Schwesterchen!«

»Steve!« Sie fiel ihm um den Hals. »Ich dachte, du kommst erst heute Nachmittag.«

»Ich wollte dich noch sehen, bevor du an die Arbeit musst und dir viel Glück wünschen!«

Er sah sie an und musste über ihren kurzen Pyjama lachen.

»Danke.« Sie setzte sich.

»Lydia, es tut mir leid!«

»Was denn?«, hakte sie überrascht nach.

Er stand auf, um ihr eine Tasse Kaffee einzugießen, und druckste etwas herum, ehe er sich räusperte.

»Das ich dich drängen wollte, weiter zur Schule zu gehen und irgendwas zu studieren.«

»Ach, schon vergessen.« Sie machte eine abfällige Handbewegung. »Das war die Sorge eines Bruders.«

In der Zwischenzeit hatte er ihr ein Brötchen mit Marmelade gemacht. Er brauchte diese Beschäftigung, denn so konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht wahrnehmen.

»Ich habe nachgedacht«, meinte der Brünette und setzte sich wieder. »Wenn du wirklich Buchhändlerin werden willst, unterstütze ich dich voll und ganz. Du kennst dich mit Büchern aus und ich denke mal, du passt ganz gut in den Laden von Madlen. Du strahlst immer so, wenn du über Bücher redest und das sollst du beibehalten.«

»Danke.«

»So, das wäre also gesagt. Sam hat gemeint, du hast einen Freund?!«, fragte ihr Bruder sie neugierig, legte seinen Kopf etwas schief und zog eine Augenbraue hoch.

»Tom? Ja, aber wir sind wirklich nur Freunde. Du hast ihn ja am Donnerstag gesehen.«

»Ja, und ich hab gesehen, wie du ihn angesehen hast und wie er dich. Da lag schon was in der Luft.«

Sie verschränkte ihre Arme und tat so, als sei sie leicht eingeschnappt. Lydia atmete tief durch und erzählte ihm, was am Tag zuvor alles geschehen war. Das Tom sie kurz vor der Schule eingeholt hatte und sie schließlich auch abholte.

»Du solltest dich doch auf die Aufgaben konzentrieren und nicht nach Jungs Ausschau halten!«, belehrte er sie und lachte dabei selber.

»Hab ich ja. Nur in meinen Denkpausen«, sie hob ihre Arme hoch, so dass Steve ihren Bauch sehen konnte, »hab ich eben aus dem Fenster geschaut.« Schließlich erzählte sie ihm ganz genau was passierte, wie sich Svenja verhalten hatte und strahlte, als sie über Toms Reaktion berichtete. Lydia vertraute Steve alles an. Sie verstanden sich blind und konnten auch mit dem Humor des anderen sehr gut umgehen.

»Scheint ein netter Junge zu sein.«

»Ja, das ist er. Ich hab ihm noch die Gegend hier gezeigt und dann sind wir zu ihm.

Papa hat ihn aber vorher noch gesehen, da ich ihm Bescheid sagte, dass ich zu den Nachbarn gehe.

Tom hat mir dann das Haus gezeigt - wirklich krass, total schick und elegant mit Kamin und so was. Dann sind wir in sein Zimmer.«

»Und, was habt ihr da gemacht?« Steve zog die linke Augenbraue hoch, als würde er sonst was erwarten.

»Wir haben seine CDs sortiert«, erwiderte sie.

»Ja, ja, das hätte ich jetzt auch behauptet!«

»Hey«, sie hob ihre Hände, »du kennst mich doch. Was du immer gleich denkst. Seine Mutter hat uns dann zum Kaffee gerufen.«

»Hast du gesagt, dass du keine Milch verträgst?«

»Natürlich. Und weißt du was? Tom verträgt auch keine Milchprodukte! Das ist komisch.«

»Was für ein Zufall!«, bestätigte Stephen.

Sie biss von ihrem Brötchen ab und nahm einen Schluck vom Kaffee.

»Ja, und seine Mutter hatte Kuchen gekauft, der eben aus laktosefreien Zutaten war.« Dann musste sie an das denken, worüber sie sich gestern ebenfalls unterhalten hatten. In der Nacht träumte sie von ihrer Mutter, einer Frau, der sie nie begegnet war. All die Fragen, brachten es wieder zum Vorschein. Schon früher hatte sie solche Träume gehabt. Manchmal schwebten Bücher in der Luft und eine Frau fing sie auf, um dann zu sagen: ›Lydia, was für ein schöner Name.‹ Es verwirrte sie stets, doch sie hatte noch nie mit jemanden darüber gesprochen.

»Was ist denn?«

»Ach, nichts.«

Er guckte sie skeptisch an, denn er spürte sofort, wenn sie was bedrückte.

»Steve! Dachte ich mir doch, dass ich dein Auto vorhin gehört habe!«

»Morgen, Papa!«, riefen beide.

»Ich werde mich mal anziehen gehen«, sagte Lydia, nahm sich die zweite Brötchenhälfte und verschwand.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer aß sie es. Sie hatte Hunger und wollte fit sein.

Steve ging ihr hinterher, sein Vater trank die erste Tasse Kaffee immer gerne in Ruhe.

»Was ist denn?« Er hielt sie sanft am Arm fest.

»Nichts, wirklich.« Langsam ging sie in ihr Zimmer und hoffte, er würde nicht weiter nachfragen, denn sie wollte nicht weinen. Auf keinen Fall! Nicht jetzt! Nicht heute!

»Hey, Schwesterchen, du kannst es mir erzählen!«, bohrte er weiter nach.

»Es ist nur ...« Sie stockte und sah in seine braunen Augen. »Als ich fast die ganze Zeit mit Tom gestern zusammen war, haben wir uns viel unterhalten. Und da kam es natürlich vor, dass gefragt wurde, wie meine Eltern so sind.

»Oh.«

Sie setzten sich beide auf ihr Bett und er nahm vorsichtig ihre Hand in seine. Es war eine gewohnte Geste und Berührung und sie schloss für einen Moment die Augen. Lydia hatte noch Zeit, es war erst zehn vor acht.

»Aber«, sie lächelte tapfer, »da ich ja eh nichts weiß, hab ich nichts gesagt. Nur halt, dass Papa sich arrangieren musste mit der Arbeit, als ich noch ein Baby war. Und ihr euch immer um mich gekümmert habt, als ich dann etwas größer wurde.

Ich meinte auch, dass es sicherlich schwierig war, nach drei Jungs, ein Mädchen großzuziehen.«

»Na ja, du warst ja wie ein Junge«, sagte er leicht neckisch.

»Bis du mir dann erzählt hast, ich sollte nicht mehr so oft Fußball mitspielen«, erinnerte sie ihn.

»Ich hab dir immerhin die ›Bravo‹ immer hingelegt.«

»Ich weiß. Das fand Tom übrigens total amüsant. Er wollte wissen, ob ich denn alles gelernt habe, was es darüber zu lernen gibt.«

Steve legte seinen Kopf schief und pikste seine kleine Schwester. »Und haste?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Aber ich war ja auch mit dir zusammen in der Drogerie, als du Binden und so was gebraucht hast«, flüsterte er tröstend.

»Was dir aber schon peinlich war!«

»Klaro, ich bin ja auch ein Mann!«

Da schubste sie ihn wieder und er kitzelte sie durch.

»Aufhören! Aufhören!«, japste sie.

Steve haute sich demonstrativ mit seiner linken Faust auf die Brust - als sei er Tarzan.

»Na gut, ich geh wieder runter. Du musst dich ja noch schick machen. Aber ich glaube, das ist hoffnungslos.«

»Hey!«, sie gab ihm einen sanften Tritt.

»Autsch!«

Er stand auf, sah aus dem Fenster und musste stutzen.

»Ist er das?«

»Mmh?« Sie richtete sich auf und er winkte. »Jupp«, bestätigte sie, öffnete das Fenster und rief: »Guten Morgen! Das ist Steve!«

»Morgen und Hi!«, begrüßte er sie. Die Sonne blendete ihn und Tom zwinkerte.

»Wusstest du, dass er hier reinschauen kann?«, wollte Steve etwas besorgt wissen.

»Ja, wir haben es gestern Abend festgestellt!«

»So, so! Dann will ich euch zwei Turteltauben mal alleine lassen! Bis heute Nachmittag, Tom!«

Natürlich sagte er Turteltauben extra laut.

»Ach Kleines, zieh dir den mal lieber an!«

Auf einem Stuhl lagen ihre Klamotten und oben drauf ihr BH, den er ihr entgegen schmiss.

»Du bist so blöd, natürlich zieh ich das an, woher sollte ich denn wissen, dass ich mit dir solange unten sitze und hier oben noch!« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust.

Tom beobachtete und grinste. »Bis dann!«

Nachdem Steve das Zimmer verlassen hatte, wollte Tom wissen, wann sie losmusste. Sie sagte es ihm und fügte hinzu: »Ich muss mich jetzt anziehen. Da ich das ja nicht im Zimmer machen kann, geh ich mal ins Bad!«

»Ach du, von mir aus kannst du dich gerne umziehen. Ich schaue auch nicht mit beiden Augen hin. Indianer-Ehrenwort!« Er symbolisierte das Zeichen und grinste. Sie musste darüber so lachen, das sie sich zurückhalten musste, sonst würde Sam doch noch wach werden.

»Also, bis später dann.« Sie schloss wieder das Fenster und schnappte sich ihre Sachen.


*


Steve machte sich schon Sorgen um Lydia, seit jeher im Grunde.

Nicht wegen Tom, sondern weil sie manchmal wirklich eine Mutter brauchte. Er wartete etwas, ehe er zögernd an die Badezimmertür klopfte.

»Ich bin’s, bist du schon angezogen?«

Lydia öffnete. Sie war gerade dabei, sich die Zähne zu putzen.

»Was hattest du den Nachbarn über deine/ unsere Mutter gesagt?«

Sie sah ihn verdutzt an, spülte ihren Mund aus und meinte:

»Das sie scheinbar überfordert war. Sie hatte ja schon drei Jungs und dann noch ein Mädchen, das war vielleicht zu viel.«

»Glaubst du das?« Sie zuckte die Schultern.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, weißt du?! Der Gedanke, sie würde uns vermissen, ist angenehmer als alles Negative. Sam war ja auch erst drei, als sie fortging. Für ihn ist es ja noch schwerer. Ich hab früh gemerkt, dass keiner von euch darüber reden will und hab es dabei belassen. Natürlich wollte ich alles wissen, aber Papa sah dann immer geknickt aus und ich wollte ihn nicht verletzen oder euch. Sowieso, was er alles aufbrachte, um alles unter einen Hut zu bringen, mit zwei sehr kleinen Kindern und euch, die schon etwas größer waren, finde ich bewundernswert«, gab sie zu und sagte: »Tom fragte mich, ob ihr Jungs mich nicht als Belastung gesehen habt.« Mit ihren großen Augen blickte sie Steve nun an und hielt den Atem an, unsicher, was sie denken sollte.

»Du und eine Belastung? Ich hab dich und Sam einfach immer geschnappt und bin mit euch zum Fußballplatz gegangen.

Da wart ihr ja schon selig und du konntest sehen, wie dein Lieblingsbruder«, dabei zeigte er auf sich selbst, »ein Tor nach dem anderen schoss.«

»Davon träumst aber auch nur du.«

Um für etwas Farbe im Gesicht zu sorgen, benutzte sie eine getönte Tagescreme, die zu ihrem Teint passte, nahm etwas Puder, um den Glanz wegzubekommen, benutzte Wimperntusche und Lipgloss vervollständigte alles.

Ein letzter Blick im Spiegel zeigte ihr, dass sie mit ihren 15 Jahren gut genug aussah, um sich so vor die Tür zu wagen.

Als sie sich zurechtmachte, bemerkte sie, wie Steve sie beobachtete. Sie lächelte ihn an und er zuckte leicht zusammen.

Manchmal war es einfach zu deutlich: Dieser Schritt, den dieses Mädchen zur Frau gerade vollbrachte. Für Stephen war es immer wieder ein Schock.


*


Halb neun verließ sie das Haus. Sie war nervös, freute sich aber total. Als sie aus der Tür ging, stand Tom schon da.

»Guten Morgen.« Sie lächelte. Er nahm ihre Hand in seine.

Verlegen schaute sie ihn an. Als sie außer Sicht der Häuser waren, blieb er stehen.

Er drehte sie zu sich. Sie schauten einander tief in die Augen und küssten sich, es war ein zärtlicher, aber zaghafter Kuss.

Dann küssten sie sich noch einmal. Dieser war etwas intensiver, vorsichtig tasteten sie sich mit ihrer Zunge vor.

Verliebt sahen sie einander an. Dann wünschte er ihr Glück und drehte sich um.

Er sah ihren Vater, der aber sofort wieder ins Haus ging. Ob er ihnen hinterhergegangen war, wusste Tom nicht.


Kurz darauf trommelte Herr Schaf alle zusammen und telefonierte sehr lange, besonders mit Michael.

Irgendwas war seltsam.


»Guten Morgen, Lydia, du bist aber früh da!«

»Guten Morgen. Tut mir leid«, sagte sie zurückhaltend.

»Das muss es nicht, ist schön. Lieber überpünktlich als zu spät.«

»Ja, das sage ich auch immer, Madlen.« Die Chefin lächelte und wies sie ein. »Zuerst sortierst du die Bücher ein. Im Lager sind die ganzen Exemplare. Wie du siehst, sind einige Lücken in den Regalen, die füllst du auf.«

»Alles klar, mach ich.«

»Wenn du Fragen hast, weißt du ja, wo du mich findest.«

»Danke, wie lange hab ich Zeit?«, erkundigte sich Lydia.

»Sehen wir dann.« Madlen wollte sie nicht unter Druck setzen, aber Lydia wusste, wie es gemeint war. Also sah sie sich im Laden um, bemerkte - Reihe für Reihe - fehlende Bücher und holte diese mit einem kleinen Wagen, der extra dafür vorgesehen war - wie sie es schon oft beobachtet hatte. Madlen sah ihr immer wieder dabei zu, begrüßte aber freundlich Kunden.

Während Lydia einen schweren Stapel in den Händen hielt und diese gerade einräumen wollte, wurde sie von einer Frau angesprochen:

»Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen,

wo ich die Kinderbuchabteilung finde?« Lydia legte die Bücher weg und zeigte in die Ecke.

»Dankeschön.«

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Äh, ja. Für meinen Neffen, er wird 8, aber eigentlich weiß ich nur, dass er gerne liest.«

»Kommen Sie!« Sie begleitete die Frau zu den Büchern.

»Hier, das wird Ihrem Neffen sicher gefallen!« Sie reichte ihr eins, welches auch nicht zu teuer oder zu dick war.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe drei Brüder. Gut, die sind alle schon erwachsen, aber ich weiß, was sie mögen. Männer tun nämlich immer so, als seien sie schon zu groß für so was, aber tief in ihrem Herzen sind sie manchmal immer noch wie 8-Jährige.« Die Frau lachte dabei und stimmte ihr zu.

»Haben Sie vielen Dank!«

»Sollte Ihr Neffe es doch nicht mögen, können Sie es innerhalb von 14 Tagen - mit Kassenbeleg - umtauschen.«

»Gut zu wissen, danke.« Daraufhin bezahlte die Kundin das Buch bei Madlen und die Chefin rief Lydia zu sich.

Irgendwie hatte sie nun Angst, einen Fehler gemacht zu haben.

»Tut mir leid, hab ich was Falsches gesagt?«

»Nein, im Gegenteil. Das war wirklich klasse.«

»Danke!«

Lydia ging zurück an ihre Bücher und sortierte weiter ein, als wieder ein Kunde zu ihr kam. Dieser beschrieb ein Buch, wusste aber nicht mehr, von wem es war, nur noch ansatzweise den Titel.

»Meinen Sie das?« Lydia zeigte ihm ein Werk, welches erst neu erschienen war.

»Ja, genau. Das Cover kommt mir bekannt vor. Danke!«

»Gerne. Es ist wirklich klasse! Ich lese es auch gerade.«

Obwohl sie immer wieder gestört wurde, war sie schnell mit dem Einräumen der Bücher fertig. »Die Zeitschriften müssen noch einsortiert werden. Zeitungen hab ich heute Morgen gemacht, aber einige Zeitschriften sind veraltet«, erklärte die Chefin des Ladens. Lydia sah sich die Ordnung genau an und versuchte es sich einzuprägen.

»Was machst du da?«

»Oh, ich will nichts durcheinanderbringen, daher versuch ich, mir erst mal alles zu verinnerlichen. Geht schneller, als wenn ich später noch mal von vorne anfangen muss«, stammelte Lydia und fühlte sich erwischt.

»Okay, mach so, wie du denkst.«

›Das war bestimmt nicht gut, wie ich gerade geredet habe‹, dachte sie verwirrt.

Auch hier wurde sie oft unterbrochen.

Diesmal sollte sie über Zeitschriften und Bücher informieren und über das, was sonst noch an Schreibkram in der Ecke stand.

Es war erst 12 Uhr, als Madlen zu ihr trat.

»So, Lydia, lass uns mal über deine Leistung reden.« Eine andere Kollegin war gekommen, die nun für Madlen übernahm.

Sie gingen beide nach hinten in ihr Büro. »Setz dich!«

Lydia hatte ein ungutes Gefühl und knetete vor lauter Nervosität ihre Hände.

»Wie fandest du den Tag?«

»Schön. Sehr interessant, ich habe viel gelernt. Am tollsten war es, dass ich die Bücher einräumen durfte und ich Kunden beraten konnte. Ich meine, sie haben mich immer so freundlich angesehen. Außer der eine, der etwas gereizt war, aber ich glaube, das hab ich auch gut im Griff gehabt. Ich hatte sehr viel Spaß. Aber ich glaube, ich war zu langsam beim Einräumen«, versuchte Lydia ihre Eindrücke zu erklären.

Wenn das Mädchen nervös war, war ihre Artikulation nicht immer die Beste. Madlen hörte aufmerksam zu.

»Freut mich, dass du so viel Spaß hattest.« In ihrer Stimme lag etwas Eigenartiges, als wäre es was schlechtes. Madlen beobachtete Lydia schon sehr lange.

»Ich meine, es war schon Arbeit, aber ich war glücklich und bin dankbar für die Chance«, rechtfertigte sie sich.

»Das war nicht als Kritik gedacht!«

Sie bemerkte Lydias Unsicherheit und versuchte, sie etwas zu beruhigen. »Ich hatte schon einige gehabt, die Probearbeiten mussten.

Viele waren launisch, haben die Kunden nicht richtig beraten oder nur hingezeigt.

Sie haben sich den Kunden nicht so angeschaut.

Ich habe sie ja schon alle extra zu dir geschickt.«

»Das dachte ich mir dann irgendwann«, bestätigte Lydia.

»Du bist intelligent, weißt viel über Bücher und bist freundlich«, sagte die Chefin.

»Also, ich denke mal, vieles war Glück.«

»Aber nicht bei zehn Kunden, die ich dir geschickt habe.«

»Meine Familie hat mich immer gefordert. Wenn ich ein Buch wollte, haben sie es mir geschenkt und zu vielen Anlässen haben sie mir eine breite Palette an Lesestoff mitgebracht.«

Madlen lachte.

»Im Grunde hatte ich dich ja so auch eingeschätzt. Als du mir die Bewerbung gegeben hast, war ich froh darüber. Du kommst seit Jahren hierher und schaust dich immer um.

Nimmst dir ein Buch nach dem anderen und guckst es dir an, dann legst du es meist wieder an die richtige Stelle. Oder du findest eins, welches falsch steht und packst es zurück.

Eigentlich hättest du gar nicht Probearbeiten müssen, nicht für mich. Aber ich wollte, dass du selbst feststellst, ob du - auch im Stress - noch diese Ausbildung toll findest. Ich meine, irgendwann wird es noch härter. Du musst vielleicht auch mal auf eine Messe oder eine Lesung organisieren.

Du kannst auch mal zehn Kunden auf einmal hier haben und jeder will gleichzeitig was wissen.«

»Sie kennen doch meine Brüder, oder?« Madlen nickte vorsichtig. »Dann wissen Sie sicher auch, dass es manchmal nicht leicht mit ihnen ist«, sagte sie und lächelte.

»Na ja gut, deine Brüder waren als Kinder schon sehr schwierig und du als Mädchen wurdest immer mitgeschleppt«, erwiderte sie.

»Ja, aber wenn ich nicht zu Wort kam, habe ich trotzdem irgendwie die Aufmerksamkeit auf mich ziehen können.« Nun lachte Madlen, weil sie sich noch daran erinnern konnte, wie Lydia als Kind war.

»Also, du würdest hier gerne drei Jahre eine Ausbildung machen? Die Schule ist im Blockunterricht und in der Stadt«, erklärte sie.

»Ja, ich weiß. Ich hab sie mir mal angesehen. Ja, unbedingt. Ich bin mir sicher, Sie würden es nicht bereuen!«

Madlen nickte.

»Das denke ich auch.« Sie holte den Ausbildungsvertrag und reichte ihn ihr. »Da du noch nicht volljährig bist, muss dein Vater ihn unterzeichnen.«

»Im Ernst?«

»Ja, du wirst zwar nächste Woche 16, aber bist trotzdem noch nicht alt genug«, erklärte Madlen, während sie noch einmal kurz auf ihre Unterlagen spähte.

»Nein, ich meinte, ich bekomme wirklich die Lehrstelle?«

»Ganz richtig!«

Lydia sprang auf und umarmte sie.

»Danke, danke, danke. Ich danke Ihnen tausendmal!«, sagte Lydia freudestrahlend.

»Du musst nur deine Prüfungen bestehen!«

»Klar, ohne Abschluss geht’s ja nicht. Aber wenn ich Mathe gestern nicht total vermasselt habe, besteht kein Grund zur Sorge. Ich müsste schon eine 6 schreiben, um auf fünf in dem Fach zu kommen.«

Daraufhin verabschiedeten sie sich und Lydia war total glücklich.

»Ach ja, wenn du in den Ferien samstagvormittags zwei Stunden das Lager aufräumen willst, sag Bescheid. Natürlich gegen Bezahlung«, bot die Ladenbesitzerin ihrem Lehrling in Spé an.

»Sehr gerne! Danke, ich melde mich, wenn ich mein Zeugnis habe. Aber ich bin spätestens in einer Woche wieder da, wenn die neuen Bücher erscheinen.«


Lydia hüpfte fast den ganzen Heimweg, so zufrieden war sie.

»Hallo, ich bin wieder zu Hause!«, rief sie, als sie die Tür aufschloss. Es war gerade mal halb eins.

»Och, so früh? Ich wollte dich abholen kommen!«, begrüßte sie ihr Bruder.

Er wirkte etwas niedergeschlagen, aber weil Lydia so fröhlich war, bemerkte sie den seltsamen Gesichtsausdruck nicht.

»Wer gute Leistung zeigt, muss halt nicht lange machen!«, sagte sie und grinste.

Sie nahm Steve an die Hand und zerrte ihn ins Wohnzimmer, zu Sam und ihrem Vater.

»Ich hab euch was mitzuteilen!«, sagte sie triumphierend.

»Du hast die Lehrstelle?«, riet Sam.

»Ja! Ist das nicht klasse! Papa, du musst nur unterschreiben. Hier«, sie reichte es ihm.

»Und, was ist, wenn ich nicht unterschreiben will?« Die

Stimme ihres Vaters klang so gar nicht nach ihm.

»Das ... das versteh ich nicht«, stammelte sie. Sie blickte sich um und sah Steve fragend an, doch er schüttelte nur betrübt den Kopf.

»Wir haben uns vorhin noch mal unterhalten«, erklärte er ihr emotionslos.

»Nein!«, sagte sie in einem bestimmenden Ton. »Nein!«

»Du musst eines Tages mal für dich sorgen können und gut verdienen. Du sollst dir später keine Sorgen ums Geld machen. In einem Buchladen kannst du immer nebenbei jobben. Aber hier geht es um deine Zukunft!«, sagte ihr Vater streng.

»Nein! Das ... Nein!« Lydia verstand die Welt nicht mehr.

»Du gehst aufs Gymnasium und wirst dann an einer Universität studieren«, sagte ihr Vater, in einem Ton, der keine Widerrede gestattete.

Lydia wusste nicht, was sie erwidern sollte. Hatte sie nicht erzählt, was sie darüber dachte?

»Was ist los mit euch? Wollt ihr mir das wirklich kaputt machen? Ich dachte, ich kann mich auf euch verlassen!« Sie richtete sich hauptsächlich an Steve, er hatte es ihr versprochen. Hatte ihr versichert, er würde hinter ihr stehen.

Irgendwas musste vorgefallen sein. Wie konnten sie ihre Meinung innerhalb von drei Stunden ändern?

So drastisch auch noch! Da erst entdeckte sie einen Brief in der Hand ihres Vaters.

»Kind, du bist klug. Die zwei Jahre kannst du auch noch zur Schule gehen, danach suchst du dir auf einem Campus eine Wohnung.«

»Ach, darum geht es? Ich ... Ich versteh euch nicht!« Lydia gestikulierte wild, ihre Stimme zitterte. Steve konnte sie nicht ansehen, es brach ihm das Herz. Er wollte sie doch immer nur beschützen.

Sie lief auf ihr Zimmer, suchte nach einer passenden CD und atmete erst einmal tief durch, als sie die ersten Klänge wahrnahm. Sie schloss die Augen, lauschte der Musik und wischte sich ihre Tränen weg.


*


»Wir müssen es ihr erklären!«, flüsterte Stephen verzweifelt, nachdem sie die Tür zugeschmissen hatte.

»Sie wird es nicht verkraften und verstehen. Nicht mal ich kapiere es«, sprach Sam.

»Sie wird es nicht erfahren! Aber sie darf nicht hierbleiben!«, entschied ihr Vater.


*


Tom war in seinem Zimmer und hatte die Szene mit angesehen. Da sein Fenster geöffnet war, hörte er den Knall, als die Tür zu ging.

»Hey!«, schrie er.

Lydia saß weinend auf ihrem Bett, runzelte ihre Stirn, als sie etwas hörte und blickte aus ihrem Fenster. Seufzend öffnete sie es gänzlich, da es nur angekippt war.

»Was ist denn los? War die Arbeit so schlimm? War die Chefin gemein?«

»Was? Nein. Ich hab die Lehrstelle.«

»Hey, Glückwunsch. Aber warum siehst du dann so betrübt aus?«, erkundigte sich Tom.

»Meine Familie will nicht, dass ich die Stelle annehme.

Ich bin ja noch keine 18 und somit darf ich das nicht alleine bestimmen.«

Tom wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, und blickte ihr nur in die Augen. Sie lächelte etwas verhalten, aber ihr Kopf war einfach zu voll und fühlte sich so schwer an. Es klopfte an ihrer Tür, doch sie ignorierte es und drehte stattdessen ihre ›Green Day‹ CD lauter.

»Lydia!«, sagte jemand mit einer leisen, sachten Stimme.

»Steve«, schluchzte sie und wischte sich die Tränen weg.

Schnell versteckte sich Tom, blieb aber am Fenster und versuchte zu verstehen, worüber sie sprachen. Es musste doch eine Lösung für dieses Problem geben. Vielleicht war es nur ein Missverständnis gewesen.

Die Musik wurde leiser und er spähte etwas aus seinem Versteck hervor und konnte sehen, wie Steve am Radio stehen sehen.

»‹Green Day‹, ja, die mag ich auch sehr gerne.« Steve setzte sich zu Lydia.

»Du hast mich angelogen!« Sie stieß ihn weg. »Du hast mich belogen und gesagt, du würdest hinter mir stehen. Du hast gesagt, du stehst mir bei, wenn ich wirklich die Ausbildung haben will. Du hast dich noch heute früh bei mir entschuldigt, weil du am Donnerstag auf mich eingeredet hast.«

Er begriff schnell, dass sie verletzt war, und nahm ihre Hand in seine.

»Kleines, du verstehst das nicht«, flüsterte er und streichelte mit seinem Daumen behutsam über ihren Handrücken.

»Was soll ich nicht verstehen!« Sie zog ihre Hand weg und stand auf. »Dann erkläre es mir! Erkläre mir, warum ihr euch meinetwegen schämt? Warum es unter eurem Niveau ist, wenn nicht alle in der Familie den gleichen Wissensstand erreicht haben? Bin ich euch im Weg?«

»Nein, du bist nicht im Weg«, seufzte er.

Lydia blickte auf und sah einen schmerzhaften Ausdruck in seinen Augen. Irgendwas stimmte nicht.

Es lief aus den Rudern. Dabei wollte Steve es niemals so weit kommen lassen. Er wollte es erklären, ihr die Wahrheit sagen, konnte aber nicht. ›Das würde sie nicht verkraften‹, ging es ihm durch den Kopf. ›Sie würde daran zerbrechen.‹

»Schwesterchen, ich würde mich nie deinetwegen schämen!«

»Du nicht, aber die andren sicherlich«, sagte sie traurig.

»Nein, das glaube ich nicht. Sie wollen nur dein Bestes. Wir wollen alle nur dein Bestes«, sprach er und flüsterte. »Ich will dich doch nur beschützen.«

Doch bevor sie etwas erwidern konnte, kam ihr Vater rein.

»Lydia, hier sind die Formulare fürs Gymnasium.«

Sie sah es sich an.

»Was?« Sie musste noch mal drauf sehen. »Nein, oh nein. Nein, nein, nein«, schrie sie.

Tom blickte hoch, als er sie schreien hörte, beobachtete aber weiterhin unauffällig die Lage.

Sam kam hinzu.

»Lydia, du schreist wie ein Kind.«

»Na und, Sam. Dann bin ich halt noch eins, so wie ihr mich behandelt. Was ist nur los mit euch?« Alle schauten zu Boden, keiner sagte was.

»Wenn das so ist, geht einfach.« Sie öffnete die Tür. Sam und Sascha gingen. Tränen rannen ihr die Wange runter.

»Lydia, bitte, du musst verstehen, dass es wirklich das Beste ist.«

»Steve ... geh … bitte«, ihre Stimme versagte. Sie fühlte ein Brennen in ihrer Brust, ihrem Herzen. Als würde ein Funken langsam ein Loch in sie hineinbrennen.


Die Tür schloss sich hinter Steve und er lehnte sich dagegen, atmete tief durch und hasste dieses Gefühl. Er hat es schon immer gehasst, nicht ehrlich sein zu können. In diesem Augenblick aber verfluchte er es, wie noch nie zu vor. Er musste stark bleiben, obwohl er sie am liebsten getröstet hätte.


Als sie alleine war, tauchte auch Tom wieder auf.

»Was ist denn los? Du hast so geschrien!«

Sie versuchte zu lächeln, aber es ging nicht.

»Ich muss weg!«

»Wann kommst du wieder?«, hakte er nach.

»Nein, ich muss weg!«, sagte sie traurig und senkte ihren Blick. »Ich soll ins Internat und dort mein Abi machen!«

»Ich kapier nicht«, sagte Thomas zögernd.

»Ich auch nicht. Ich hab es hier schwarz auf weiß!« Sie hielt einen Zettel in der Hand, schaute erneut drauf und schmiss es achtlos zu Boden. Sie raufte sich ihre blonden Haare und wusste einfach nicht, wieso plötzlich alles aus dem Ruder lief. Es war doch alles gut.

»Ja, aber warum?«

»Hast du nicht hingehört?«

»Ja, aber ich hab nichts raus hören können«, gab er zu und fuhr sich mit seiner Hand durch seine blonden Haare. Sie waren kurz und nun etwas verwuschelt.

»Siehst du! Ich auch nicht«, bestätigte Lydia.

»Und du musst wirklich schon im neuen Schuljahr weg?« Das Mädchen runzelte die Stirn und war sich sicher, ein Datum erkannt zu haben. Sie beugte sich runter, hob das Blatt auf und wurde noch blasser als zu vor.

»Lydia?«

Sie brach weinend zusammen. Konnte nichts mehr sagen. Tom rannte aus dem Zimmer. Sie hörte, wie es an der Tür klingelte und ging die Treppen runter.

»Lydia ist nicht da!«, hörte sie ihren Vater barsch reden.

»Doch, sie ist da, ich weiß es ganz genau.«

Steve eilte herbei.

»Vater, ich kläre das.«

Sascha war selbst fix und fertig. Er ging in die Küche, zu Sam zurück. Sie telefonierten gerade mit Michael.

»Steve, was ist bei euch los?«

»Lydia geht’s gut. Sie ist ab Montag nicht mehr hier«, erklärte er geknickt.

»Ab Montag?« Er sah ihn fragend an und schüttelte verwirrt den Kopf. Montag? Das war schon sehr bald.

»Ja, es ist ein Platz frei geworden, kurzfristig sozusagen. Sie kann dann ins Internat und dort den Sommer über wohnen.«

»Die Ferien verbringt sie nicht hier?«, wollte Tom wissen. Er runzelte die Stirn, starrte Steve dabei aber an.

Steve schmerzte es zutiefst. Er hasse sich selbst dafür. Hasste es, dass es soweit hat kommen müssen.

»Nein. Sie wird dort Praktika machen und sich komplett auf die Schule einstellen.«

»Was ist mit den Prüfungen?«

»Dort ist es freiwillig, ob jemand seinen Realschulabschluss machen will, obwohl er sich auf das Abitur quasi vorbereitet, oder nicht. Es liegt also an ihr, ob sie die Mündlichen noch machen will«, stammelte Stephan. Ihm ging so viel durch den Kopf, dass er kaum einen klaren Gedanken oder gar Satz zu Stande bringen konnte.

»Wo muss sie hin?«

»Nach ... Bayern.« Steve machte eine kurze Pause, blickte kurz nach hinten und trat einen Schritt hinaus, sodass er die Tür etwas hinter sich schließen konnte.

»Geh wieder in dein Zimmer, und versuche auf Lydia ein Auge zu werfen. Rede mit ihr und versuch sie zu beruhigen. Aber komme nicht noch mal her und verliebe dich nicht in sie!«, flüsterte er. Verwirrt sah Tom ihn an. »Ich weiß, sie mag dich sehr und du sie scheinbar auch.«

Da Tom wusste, dass Stephen nichts mehr hinzufügen würde, fragte er:

»Liegt es meiner Familie?« Steve schwieg, Tom aber glaubte, ein leichtes Nicken vernommen zu haben. »Ihr kennt uns doch nicht!«, flüsterte er.

Steve war bereits im Begriff hinein zu gehen, als er noch einmal innehielt, Tom anschaute und kaum hörbar: »Wenn du wüsstest« sagte. Mit diesem Satz ließ er ihn stehen. Tom war verstört. Was wollte Lydias Bruder nur damit andeuten? Er ging zurück ins Haus.


»Was ist denn los, Tom?«, wollte seine Mutter wissen. Er erzählte es ihr und bemerkte einen eigenartigen Gesichtsausdruck bei ihr.

»Weißt du, was er meinte?«, fragte er sie anschließend. Ja, sie wusste es, sagte ihm aber nichts davon.

Dabei wäre es sein Recht gewesen, es zu erfahren!

Er ging in sein Zimmer. Seine Mutter atmete erleichtert aus.

Sie hatte schon Bedenken, dass sich die Kinder so gut verstanden.

»Lydia!«, rief er zu ihr.

»Was war unten los? Warum durftest du nicht hoch? Warum ist Steve mit dir raus?«

»Dein Bruder hat was Seltsames gesagt! Ich fragte, wann du weggehst und er meinte, schon am Montag fängst du in der neuen Schule an. Das bedeutet, du musst morgen los.«

Lydia weinte immer noch und nickte zu dem, was er sagte.

»Bayern!«, stieß er erstaunt hervor.

»Hat er dir gesagt, wo genau?« Er schüttelte den Kopf.

»Bayern, das wäre ja noch schön.«Sie machte eine Pause.

»Eigentlich ist es schon fast in Österreich!« Das fünfzehnjährige Mädchen fasste sich an die Stirn. Sie fühlte sich kühl an, obwohl es warm war. Alles war zu viel für sie.

»Was?!« Er war geschockt.

»Psst! Versuch nicht zu laut schreien.«

»Steve hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.«

»Wirklich?«, fragte Lydia verwundert.

»Ja. Ich hab ihn auch gefragt, ob es an meiner Familie liegt.«

»Das ist unmöglich, ihr wohnt doch erst seit Donnerstag hier.«

»Na, das dachte ich mir ja auch, aber ich musste dennoch Nachfragen.« Er versuchte, sich selbst wieder zu fassen, und berichtete ihr von dem Gespräch und allem, was Steve zu ihm gesagt hatte. »Ich stand da wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann hab ich meiner Mutter alles erzählt und sie hat auch so komisch reagiert!«

»Tom, irgendwas stimmt hier nicht. Ich hab euch vorher noch nie gesehen und hab nie meine Familie über jemanden mit dem Nachnamen Hafe reden hören. Aber weißt du, manchmal hab ich so das Gefühl, sie verstummen, wenn ich ins Zimmer komme und überlegen sich schnell ein Thema. Mein Vater bekommt alle paar Monate ein Päckchen oder einen wichtigen Brief, den er behutsam weglegt.«

Tom dachte nach. Hatte er schon mal etwas vernommen oder irgendwas gehört?

»Du, Lydia ... dein Bruder meinte, ich darf mich nicht in dich verlieben. Wie meint er das?« Sie schaute ihn verblüfft mit ihren grünen Augen an und wusste nicht, was sie antworten sollte. Es war einfach alles sehr verwirrend, wie sollte sie nur damit zurechtkommen? Das war doch absurd. Warum sollte er sich nicht in die verlieben? Wieso dürften sie nicht zusammen sein? Um den Kopf wieder etwas klarer zu bekommen, beschlossen sie, einfach weiter in dem Buch zu lesen, welches sie am Abend zuvor schon begonnen hatten. Obwohl sie kaum gedanklich folgen konnten, worum es in diesem Buch eigentlich ging, tat es gut. Es war etwas Solides. Der Inhalt stand schon fest und würde sich nicht mehr ändern. Es war etwas, worauf sie sich verlassen konnten und so verbrachten sie einfach die nächsten Stunden damit und irgendwann folgten sie auch der Geschichte aufmerksam und lachten, wenn es passend war, oder wirkten überrascht, wenn es die Situation vorschrieb.

Langsam begann es allerdings zu dämmern, doch sie wollten noch nicht aufhören. Nicht dieser Blase entkommen, die sie sich gerade aufgebaut hatten. Sie könnte jeden Moment platzten, wie eine Seifenblase im Wind.

Irgendwann vernahm sie ein stumpfes Klopfen und registrierte, wie die Tür geöffnet wurde. Steve meinte, es sei Zeit fürs Abendessen, doch Lydia hatte keinen Hunger. Sie wollte doch nur hier sitzen und mit ihrem Freund Zeit verbringen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann müssten sie sich von einander trennen. Sie fragte sich, ob sie eine Zukunft gehabt hätten oder ob er einfach nur ein guter Freund geworden wäre ...

»Du musst was essen!«, meinte Steve und blickte zwischen Lydia und Tom hin und her. Kurz schien es Lydia, als würde ihm etwas in den Sinn kommen. Ein neuer Gedanke oder eine Erkenntnis, doch dann schaute er wieder nur sie an.

»Ja, ja. Irgendwann. Geh!«, schrie sie und Stephen schloss leise die Tür hinter sich, unsicher, was als Nächstes passieren würde.

*


»Sie will nicht herunterkommen«, sagte Steve zu den anderen, als er die Küche betrat.

»Arme kleine«, meinte Sam betrübt und schüttelte den Kopf und doch ... Es wurde Zeit für die Wahrheit, das war auch ihm bewusst.

Sascha zuckte mit den Schultern und sprach: »Sie sollte sich lieber bald daran gewöhnen. Stephen, wenn sie bis heute Abend nicht runterkommt, wirst du noch einmal mit ihr reden und du hilfst ihr beim Packen.

Auf dich wird sie hören.«

»Ich will sie aber nicht Verletzten.«

»Möchtest du, dass ich es mache?«


* 4. Gewissheit und Angst



Lydia wollte gerade wieder ansetzen zu lesen, als Tom plötzlich aufschrie.

»Nein! Das darf nicht wahr sein! Nein, oh nein, nein, nein, nein.« Verwirrt über diesen Ausbruch, schaute sie ihn lange an.

Er raufte sich die Haare, ging im Zimmer hin und her.

»Lydia, wann hast du Geburtstag?«, wollte er wissen.

»Am 7. April.«

»Jahr?«

»1993.«

»Ach. Du. Scheiße!«, sagte er betont langsam. »Nein, nein, nein. Warum ist mir das nicht gleich aufgefallen? Ich bin so bescheuert«, stammelte Thomas.


Fünf Minuten später stürmte Lydia Schaf in die Küche:

»Ich bin ein Zwilling?« Alle mussten schlucken und tief Luft holen. Michael war in der Zwischenzeit auch angekommen.

»Lydia, woher?«, fragte ihr Vater.

»Tom!!«, meinte Steve erschrocken.

»Dieser Bengel«, schrie Sascha.

»Also stimmt es? Tom und ich sind Zwillinge? Aber wie? Wie ist das möglich? Wolltet ihr keinen weiteren Jungen mehr? Wolltet ihr meinen Bruder nicht mehr hier haben?«, fragte sie hysterisch und fluchte dabei.

Sie waren alle geschockt, so kannten sie das Mädchen gar nicht und ihr Vater meinte nur:

»Lydia beruhige dich!«

Als es an der Tür klingelte, nutzte Michael die Gelegenheit, um kurz durchzuatmen. Familie Hafe ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und Michael murmelte nur »Küche« und schlurfte ohne Elan hinter ihnen her.

»Die Kinder sind klüger, als wir dachten, Sascha.«

»Was geht hier vor? Tom?«, wollte Lydia wissen und musste ein paar Mal blinzeln, da Tränen ihr die Sicht verschleierten.

»Ich bin zu meinen Eltern hin, um zu wissen, was Sache ist, und plötzlich sind sie aufgestanden und na ja, hier sind wir.« Er sah selbst mitgenommen aus, hatte rote, gequollene Augen. Lydia atmete tief ein und aus. Als sie merkte, dass ihre Stimme nicht mehr so wackelte, sagte sie:

»Tom und ich haben ein Recht auf die Wahrheit! Wenn ihr uns nichts sagen wollt, seid ihr Feiglinge! Alle, wie ihr da steht!«

»Was willst du wissen?«, wollte Herr Hafe wissen.

»Gehen wir ins Wohnzimmer, da riecht es nicht so nach Essen und wir haben mehr Platz«, schlug Herr Schaf vor.

Alle, bis auf Tom und Lydia, setzten sich aufs Sofa und in die Sessel. Sie sah zu Tom. Er wirkte sehr blass und niedergeschlagen.

»Wir werden euch jetzt Fragen stellen, die uns nach und nach einfallen und ihr werdet sie offen und ehrlich beantworten! Aber wehe einer lacht, weil ich mich vielleicht nicht ordentlich ausdrücke.« Alle nickten. »Tom und ich sind Zwillinge?«

»Ja!«, bestätigten sie etwas zögernd. Lydia nahm ihren neuen Bruder an die Hand, um ihm Mut zu machen. Sie drückte diese sanft und er lächelte sie kurz an, ehe sie weiter fragte: »Seit wann wisst ihr das?« Sie richtete die Frage an die drei Brüder. Steve ergriff das Wort:

»Michael und ich haben es eigentlich gleich gewusst. Ich hab es nicht sofort verstanden, aber Michael wusste genau, was los war. Sam haben wir es erst vor einigen Jahren erzählt.«

»Ihr habt mich die ganze Zeit über angelogen?«, stieß sie empört und verletzt aus.

Es war, als würde sich ein Loch unter ihr auftun und sie verschlingen. Ihr ganzes Leben war eine Lüge?

Sie sah Steve in die Augen und ließ nicht zu, dass er sich abwandte. Nein, sie musste wissen, was in ihm vorging. Dabei vertraute sie ihrem Bruder alles an. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Plötzlich fühlte sie sich verraten. Eine Stimme in ihrem Kopf sprach leise:

›Du hast es doch immer geahnt.‹

Ahnte sie es wirklich? Tief im Inneren? Aber wer würde schon auf solche Gedanken kommen? Ja, sie war irgendwie schon immer anders als ihre Geschwister, aber auf eine so absurde Idee zu kommen ... Das übertraf ihr Vorstellungsvermögen.

»Es war eine Lüge, die in deinem Interesse war. In eurem Interesse.«

Tom funkelte alle böse an und fragte nun, wer adoptiert wurde.

»Wie meinst du das, mein Schatz?«, hakte Franziska nach. Lydia zitterte. Tom merkte das und nun hielt er ihre Hand fester.

»Na, ganz einfach: Wer brachte uns zur Welt? Wer wurde weggegeben, wer blieb?«

Überall wurde es still, keiner rührte sich. Dann sagte Jochen Hafe: »Ihr seid beide adoptiert.«

Den Teenagern wurde schwindlig. Steve bemerkte es und ging in die Küche, um beiden ein Glas Wasser zu holen.

»Danke«, murmelten sie.

»Natürlich! Ihr seid ja alle dunkelhaarig und keiner hat die gleiche Augenfarbe. Ihr habt auch eine andere Kinnpartie, die Nase ...«, bemerkte Tom aufgebracht.

»Ja, so ist es bei meinen auch«, bestätigte Lydia. »Ich verstehe das alles nicht. Das passt nicht zusammen.« Lydia versuchte, das Puzzle zu vervollständigen. Eine andere Haarfarbe machte noch lange nicht den Unterschied, aber auf einmal kam sie sich einfach nur lächerlich vor.

»Was denn?« Sie lächelte Steve an, sah dann aber wieder zu den Eltern.

»Also: Ihr habt uns beide adoptiert. Gut. Wer ist dann aber die Mutter von Michael, Steve und Sam und warum ging sie?«

»Der Mutter, von deinen Brüdern, ging es nicht mehr gut.«

Die Jungs sahen sich an, als wäre es auch für sie etwas Neues.

»Drei Mal im Jahr schickt sie mir ein Päckchen für die Jungs. Darin sind Kleinigkeiten und Geld. Eure Mutter will keinen Kontakt mehr zu euch. Sie hat euch lieb, aber sie konnte einfach nicht mehr.«

»Was hat sie?«, wollte sie wissen.

»Sie ging, weil sie sich neu verliebte. Sie hat wieder geheiratet, ihr Mann ist reich. Sie ist noch immer verheiratet. Hat eine neue Familie gegründet.« Das war zwar ein Schlag für alle, aber deutete nicht auf eine Krankheit hin. Im Gegenteil. »Lydia, du bist mit keinem von uns verwandt und Tom, du mit keinem aus deiner Familie«, fügte Sascha zu seiner Erklärung hinzu. Noch immer waren alle Kinder verwirrt.

»Warum wurden wir getrennt und wie kommt es, dass wir so weit weg von einander aufgewachsen sind?«

»Franziska und ich waren die Paten von euch. Shannon und James, eure Eltern, wollten, dass ihr in gute Hände kommt, sollte ihnen etwas passieren. Wir wuchsen im Grunde alle zusammen auf, gingen auf die gleiche Schule und auf dieselbe Uni.«

»Shannon und James«, flüsterte Tom leise.

»Ihr wart erst wenige Wochen alt, als sie bei einem Autounfall starben. In ihrem Testament war vermerkt, wer wen bekommt. Sie hinterließen euch eine Menge Geld, so dass eure Ausbildung abgesichert ist«, beendete Sascha seinen Satz. Und wieder an die Brüder gerichtet: »Eure Mutter war noch da. Daher war es kein Problem.

Doch Lydia war keine zwei Monate bei uns, als sich meine Frau veränderte. Nina suchte bei mir Rat. Sie war verzweifelt, wollte mich nicht alleine lassen, war aber depressiv. Also ließ ich sie gehen. Sie brauchte Abstand. Ich nahm an, dass der Verlust ihrer besten Freunde sie so mitgenommen hatte.«

Das war zu viel für alle. Nachdem jeder sich wieder etwas gefasst hatte, wollte Steve wissen, warum Familie Hafe überhaupt in ihr Nachbarhaus gezogen sind, wenn sie es doch geheim halten wollten. Das leuchtete nicht ein, denn sie hätten doch ahnen können, was es auslösen würde.

»Wir dachten, es wäre gut, wenn sie sich langsam kennen lernen. Die Zeit war eigentlich reif dafür. Wir haben schon lange nach Arbeit hier Ausschau gehalten. Sascha und Michael fanden es auch eine gute Idee«, erklärte Herr Hafe.

»Michael, du wusstest davon? Du wusstest, wer sie sind?«

Er nickte und meinte: »Versteht mich nicht falsch. Aber ich dachte, es wäre gut für alle, wenn es langsam raus kommt. Aber dass es sich so entwickelt, konnte keiner ahnen.«

»Wie entwickeln?« Lydia war komplett fertig.

»Ihr wart gerade dabei, euch in einander zu verlieben, habt euch geküsst«, sprach der Ältere behutsam.

Lydia, die noch immer die Hand von Tom hielt, ließ sie augenblicklich los.

»Mir wird schlecht«, murmelte sie, hielt sich eine Hand vor ihren Mund und lief ins Bad. Tom folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Lydia erbrach sich, kaum dass die den Toilettendeckel hochgeklappt hatte.

»Lydia, rede mit mir!« Er klang verzweifelt und als er sein Spiegelbild erblickte, erkannte er sich selbst nicht darin. Zerzauste Haare, verwirrter und verängstigter Blick, glasige Augen.

»Wir haben uns geküsst! Zweimal! Einmal mit Zunge! Oh mein Gott. Das gibt es nicht.«

»Dein Vater muss uns beobachtet haben! Nachdem du in den Laden gegangen bist, hab ich ihn gesehen.«

Sie fasste sich an ihre Stirn, die eiskalt war und ihr wurde erneut schummrig und schlecht. Sie musste würgen, aber es kam nur noch Gale mit hoch, was in ihrer Speiseröhre brannte.

»Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie.

Tom musste sich irgendwo festhalten und schüttelte immer wieder den Kopf. »Oh Gott. Ich darf gar nicht daran denken, was noch passiert wäre.« Sie wusste, was er meinte, doch konnte sie es nicht in Worte fassen.

»Tom, sag so was nicht. Du darfst nicht mal daran denken.« Er schämte sich, boxte mit der Faust gegen die Fliesen im Bad. Er haute so stark drauf, dass er sie kaputt schlug und sich schnitt.

»Ach herrje. Warte.« Sie holte eine Creme, Verband und verarztete ihn.

»Danke, Schwesterchen.« Sie lächelten beide. »Es tut mir leid.«

»Was denn, Tom?«, fragte sie irritiert und schaute ihn wieder an.

»Das ich dich geküsst habe!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir haben uns geküsst.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Es sollte nicht sein. Wir haben zu gut zusammen gepasst, verstanden uns gleich auf Anhieb.«

Er nahm sie in den Arm. So blieben sie noch eine Weile stehen und gaben sich einfach nur selbst Halt. Sie spülte ihren Mund mit Mundwasser aus, damit sie diesen ekelhaften Geschmack los wurde.

»Wir sollten wieder nach unten gehen«, schlug sie schließlich vor und vermied es, in den Spiegel zu schauen, obwohl er genau vor ihr war. Sie wollte nicht wissen, wie sie aussah. Es war ihr egal. Alles schien plötzlich von einem Nebel, um sie herum verschlungen zu werden, und hinterließ nichts weiter als ein Gefühl der Leere.

»Hast du dich schon beruhigt?«

Tapfer lächelte sie ihn an und öffnete die Tür.

Steve stand nervös an der Treppe.

Er wusste nicht, ob er ins Bad gehen sollte. Also wartete er. Er wollte sie doch nur beschützen. Sie vor all den Schmerzen bewahren, die sie nun erlitt. Die Wahrheit brannte sich seit vielen Jahren in sein Inneres. Er konnte nichts sagen. Deshalb rackerte er hart und wollte nicht mehr in ihrer Nähe sein.

Er erkundigte sich nach Toms Hand, dann umarmte er ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Kumpelhaft sollte er wirken. Schließlich ging er etwas in die Knie, um Lydia direkt in die Augen zu schauen. Er versuchte zu lächeln und nahm sie einfach in die Arme. Sie hörte seinen Herzschlag, schloss die Augen und atmete seinen Duft ein. Wenigstens den kannte sie noch.

»Das ist echt Horror!«, sagte sie leise zu Steve.

Er zog sie sanft an sich und meinte: »Alles wird wieder gut.« Sie blickte auf und hoffte, er würde recht behalten.

»Geht es euch gut?« Im Wohnzimmer warteten alle gespannt auf sie und schienen etwas in Deckung zu gehen.

»Ja. Wir haben über alles geredet«, meinte Lydia Träge.

»Konntet ihr eure Gefühle klären?«, wollte Sam wissen, der mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster stand und sie mitleidig betrachtete. Nachdem die Wahrheit vor wenigen Minuten ans Licht gekommen war, konnte er endlich wieder durchatmen.

»Da gab es nichts zu klären. Tom ist mein Bruder, fertig.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

»Ganz schön viel passiert heute. Bis zum Mittag war mein Leben wunderschön. Jetzt ist es einfach nur noch Chaos. In meinem Kopf schwirrt es und da Tom mir so unglaublich ähnlich ist, wird es ihm nicht anders gehen. Selbst Sam und Steve sind verwirrt. Ob Michael alles wusste, glaub ich nicht.

Jedenfalls sah er auch sehr geschockt aus, als es um eure Mutter ging. Es ist komisch. Plötzlich sind wir Zwillinge und im Grunde Waisen. So sollte unser Geburtstag, den wir in wenigen Tagen haben, nicht aussehen. Der Sechzehnte sollte was Besonderes sein. Um aber nicht noch mehr Schmerz zu verbreiten und Trostlosigkeit in euren Augen sehen zu müssen«, sie blickte sich um und blieb bei Steve hängen, »werde ich morgen ins Internat gehen.

Ich werde mein Abitur machen, um später zu studieren.

Vielleicht werde ich Verlegerin oder Journalistin.« Sie lächelte Steve an. »Ich bin froh, dass Shannon und James uns zu euch gebracht haben. Dass wir getrennt wurden, beschert es uns nun eine so große Familie, wie sie toller kaum sein könnte.«

Tom stimmte dem zu, war aber traurig über ihre Entscheidung.

»Ich möchte nichts mehr davon hören. Die Entscheidung wegzugehen, ist die einzig Richtige. Ihr hattet es von vornherein geplant. Steve ist sicherlich hergekommen, weil ihr alle wusstet, dass so was passiert und Michael kam, um sein Gewissen zu erleichtern. Ihr werdet mir fehlen. Ich hoffe, wir können trotzdem Kontakt halten?

Und ich hoffe, ihr verbietet Tom und mir nicht, dass wir uns kennen lernen. Er ist mein Bruder. Und, wie es aussieht, mein einziger Verwandter«, sie beendete ihren Monolog und ging nach oben. Wortlos und perplex lief Tom nach Hause, seine Eltern entschuldigten sich und folgten ihrem Sohn.

»‹Shakespeare‹ lässt grüßen«, stammelte Sam, der in seiner Schulzeit viel über den Engländer lesen musste. Ja, auch beim Barden gab es sehr häufig monologische Erklärungsstränge.

»Sam, sie hat ein Recht sich Luft zu machen. Sie wurde ihr ganzes Leben lang angelogen.«

»Ich weiß, Steve. Aber endlich ist die Katze aus dem Sack und wir brauchen nicht mehr geduckt durchs Leben gehen. Für mich war es auch nicht einfach. Manchmal musste ich mir auf die Zunge beißen, um es nicht versehentlich auszuplaudern«, gestand der jüngere.

»Nun müssen wir sehen, wie sie es wegsteckt.« Doch auch Steve fiel es nicht immer einfach, das Geheimnis zu wahren.


*


Nur noch einen letzten Abend mit Tom verbringen, mehr wollte sie nicht. Sie hatte Kopfschmerzen, ihr war noch immer schlecht und sie glaubte, alles um sie herum würde sich im Kreis drehen. Immer schneller, unaufhaltsam würde es aber irgendwann stehen bleiben und sie gegen eine Wand krachen lassen.

Es wurde alles gesagt und niemand hielt sie davon ab. Er war ihr Bruder und sie musste ihn kennen lernen. Sie legte eine CD ein, drehte aber den Regler leiser.

»Tom! Schön dich zu sehen!«

Er nickte.

»Komm Schwesterchen, lies mir aus dem Buch vor. Wir haben genug geredet! Jetzt will ich an nichts mehr denken,

außer an unsere Figuren.«

Lydia lächelte und holte den Roman wieder hervor.

»Wie willst du«, begann er nach einer Weile, »morgen ins Internat kommen? Fahrt ihr mit dem Auto?«

»Nein! Ich werde mich sehr früh losmachen. Ich möchte Stephen fragen, ob er mich zum Bahnhof fährt und dann war es das.«

»Kein Zurück mehr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Ich will auch nicht, dass mich jemand besuchen kommt.

Ich warte lieber auf Briefe. Du schreibst mir doch, oder?«

»Na, klar.« Sie lächelte und las weiter. Ihr ging so viel im Kopf herum, sie musste ja auch noch packen und ... Sie las und las, betonte alles so, wie es sein sollte, und wollte sich am liebsten in dieser Geschichte verlieren. Nicht mehr herauskommen. Aber das war unmöglich. Die Realität lauerte hinter der Tür auf sie. Ihre Seifenblase wollte sie noch aufrechterhalten, zumindest für ein paar Stunden. Danach durfte sie wieder platzen.

»Schlaf gut, Bruderherz und vergiss mich nicht«, sagte sie, als sie sich gute Nacht wünschten. Leider verflogen ihre Kopfschmerzen nicht durch die frische Luft. Sie lag im Bett und starrte zur Decke:


*


»‹Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt,

Als Ausgestoßener weinend mich beklage,

Umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt,

Und ich verzweifelt fluche meinem Tage, -

Dann wär‹ ich gern wie andre hoffnungsreich,

So schön wie sie, bei Freunden beliebt,

An Kunst und hohem Ziele manchem gleich,

Freudlos mit dem, was mir das Schicksal gibt.

Veracht‹ ich mich beinah in den Gedanken,

so denk‹ ich dein, dann steigt mein Geist empor

Der Lerche gleich von trüber Erde Schranken

Und jauchzt im Frührot an des Himmels Tor.«


*


Sie atmete tief durch und flüsterte in die Dunkelheit hinein:

»Ach, Shakespeare sprach schon weise in seinen Sonetten.

Vielleicht passt ja auch irgendwann das letzte Stück von der 29 zu mir.


*


›In deiner Liebe fühl‹ ich mich so reich,

daß ich nicht tausche um ein Königreich!‹«


*


Lydia fühlte viel, nur nicht geliebt. Manchmal, wenn sie weder ein noch aus wusste, zitierte sie einfach irgendwas. Sie sprach dann mit sich selbst, damit sie ihre Gedanken wieder ordnen konnte. So war sie und in der Regel half ihr William Shakespeare wieder aus einer Sackgasse hinaus.

Und während sie vor sich hin murmelte verharrte Stephen eine Zeitlang vor ihrer Tür und hörte ihr aufmerksam zu. Denn, wie der Zufall es so wollte, war sie nicht gänzlich geschlossen.

Er wollte eintreten, ihr beistehen, doch ihm war bewusst, dass sie Zeit für sich brauchte.


Es war Sonntag und Lydia konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Sie hatte ihre Sachen gepackt. Auch Tom schlief nicht und immer, wenn er hinüberblickte, sah er noch Licht bei seiner Schwester brennen.

Irgendwann wusste Lydia, dass sie nun in die Küche gehen konnte.

»Hey«, flüstere Steve und schaute sie mit seinen großen, braunen Augen an.

»Morgen«, sagte sie und runzelte die Stirn, zog den Stuhl zurück und setzte sich. Ihr Blick fiel auf die Uhr hinter Steve und wunderte sich, warum er noch vor sieben Uhr wach war.

»Ich konnte nicht schlafen«, meinte er, als er ihren verunsicherten Blick wahrnahm.

»Ja, ich auch nicht. Ich hab meine Sachen gepackt.«

Lächelnd stand er auf und goss ihr eine Tasse Kaffee ein. Er wusste, dass sie sehr früh aufstehen würde.

»Danke.« Die Tasse wärmte ihre kalten Hände und sie sog den Duft in sich auf. Kaffeeduft beruhigte sie.

»Ich versteh nicht, warum du nie etwas zu mir gesagt hast.«

Steve nahm ihre Hand, die auf dem Tisch lag.

»Hättest du es denn verstanden? Wenn wir es dir vor Jahren schon gesagt hätten, würdest du es dann so verstehen wie heute?«

»Aber ich kapiere es ja nicht«, sprach sie verzweifelt.

»Wer weiß, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Toms Familie schon früher hergezogen wäre. Vor Jahren wäre dir nicht das Herz gebrochen worden.«

»Mir wird schon wieder schlecht!«, murmelte sie in ihre Kaffeetasse.

»Weil ihr euch geküsst habt?« Sie sah ihn mit verkniffenen Augen an. Ihre Stimmen blieben die ganze Zeit gedämpft, da sie niemanden wecken wollten. Für beide war es wichtig, noch einmal etwas Zeit miteinander zu verbringen.

»Mach dir mal keine Gedanken darüber. Es ist nichts passiert.«

»Steve, kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Alles, was du willst.«

»Würdest du mich zum Bahnhof bringen? Gegen 8 Uhr fährt ein Zug.«

»Du willst nicht, dass ich dich direkt hinfahre?«, fragte er sie.

»Nein!«

»Aber bis dahin werden die anderen noch schlafen.«

»Das ist ja meine Absicht. Du bist Frühaufsteher.«

Natürlich willigte er ein. Er würde um die halbe Welt reisen, um ihr zu helfen.

Sie verzog sich ins Bad, doch nach einer Weile kam Steve rein. Er wollte etwas mit ihr besprechen und hatte vollkommen vergessen, anzuklopfen, da er so in Gedanken war.

»Entschuldige!« Er schloss die Tür wieder und versank vor Scham im Boden. Kurz darauf wurde die Tür wieder geöffnet. Lydia hatte ihre Zahnbürste im Mund.

»Tut mir leid. Das ist mir peinlich.«

Sie spuckte die Pasta aus und legte die Bürste in eine Tasche.

»Nichts passiert.«

»Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Hilfe beim zusammen packen brauchst und was du essen möchtest«, stammelte er.

»Wenn du magst, klar.« Sie suchten nun Lydias Kosmetikzeug zusammen und gingen gemeinsam nach unten.

»Ach Stevie, du bist ja immer noch knallrot.« Sie boxte ihn und sagte: »Hey, wo nichts wächst, kann man auch nichts weggucken, denke dran!«

Da musste er lachen, doch wusste er natürlich, dass das nicht der Wahrheit entsprach. So etwas machte man nicht und da gab es auch nichts schönzureden oder zu diskutieren.

»Ja, das stimmt allerdings«, sagte er lachend. Sie schubste ihn und nun mussten sie gemeinsam lachen. Trotzdem fragte sich Lydia, ob es wohl jemals wieder so wie früher sein wird? Ob sie jemals wieder unbeschwert sein können.

Nach dem Frühstück packte er ihre Taschen in den Kofferraum.

»Hast du genug Geld?«, wollte er wissen, als sie am Auto standen.

»Oh verdammt! Da war ja noch was, was ich erledigen wollte«, meinte sie und schnipste mit den Fingern.

Steve nickte, zog sein Portmonee heraus und reichte ihr ein paar Scheine. Damit müsste sie die erste Zeit überstehen können.

»Danke. Das bekommst du aber bald zurück.« Sie fühlte sich so merkwürdig. Noch bevor sie es unterdrücken konnte, kullerte eine Träne ihre Wange hinunter.

Er ging etwas in die Knie und sah sie von unten an:

»Sei nicht albern, das ist das Mindeste.« Und wischte die Träne so sanft weg, dass sie die Luft anhalten musste.

»Danke.«

Sam, Michael und Sascha kamen nach unten. Doch sie sahen nur noch die Rücklichter vom Auto. Auch als Tom wach wurde, wusste er, dass er sie verpasst hatte.

Er blickte zu ihr rüber. Ein Zettel klebte an der Scheibe:

»Vergiss mich nicht, Brüderchen.«


*


»Es ist das Beste für uns alle«, sprach Sascha und nahm sich eine Tasse Kaffee. Die Jungs sahen sich an und verzogen sich ins Wohnzimmer. Sam war irgendwie erleichtert. Er liebte Lydia, wie er seine Brüder liebte, aber es war nie einfach. Er wuchs schließlich auch ohne Mutter auf, doch darauf achtete niemand. Es ging stets um Lydia. Allerdings musste er sich auch eingestehen: Seine Schwester war immer für ihn da gewesen und sie kümmerte sich um den Haushalt, sorgte dafür, dass alles ordentlich war.

Ja, er würde sie vermissen. Möglicherweise sogar mehr, als er es sich jetzt eingestand.

Michael hingegen wollte einfach nur, dass sie ihm verzeihen würde. Es war für alle das Beste gewesen, das sie fortging. Sie musste selbst darauf kommen und das tat sie. Sie wollte so gerne die Ausbildung beginnen, sie wollte ihre Gefühle zulassen. Doch alles war nun in Scherben. Es zerbrach, ihr Glück.


*


»Danke, Steve«, sprach sie, als sie den Bahnhof erreichten. Es war das Erste, was sie sagte, seitdem sie im Auto saßen.

»Gerne. Warte mal!« Er stieg mit ihr aus und drückte sie ganz fest zum Abschied. »Ich habe noch etwas für dich«, meinte er etwas zögernd. Er reichte ihr einen Brief, der noch etwas anderes enthielt, was sie fühlen konnte. »Erst öffnen, wenn der Zug schon mindestens 15 Minuten lang unterwegs ist.«

»Mach ich«, versprach sie weinend und zögernd.

»Deinen Fahrplan hast du und du weißt, wann du umsteigen musst?«

»Ja. Schickt mir meine restlichen Sachen bei Gelegenheit zu.«

»Machen wir! Beeile dich.« Tränen brannten in seinen Augen, doch noch konnte er sie nicht ganz zulassen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und rannte, mit Rucksack, Koffer und Tasche, zu ihrem Gleis. Das Ticket kaufte sie online.

0 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Leseprobe zu "Das Geheimnis des Stiftes"

Prolog Name ... Ja, und genau da fängt es schon an. Wie soll ich mich nur nennen? Mir schwebt Marinette vor. Klingt doch schön, oder? Schnell muss ich nachschauen, in welcher Form dieser Name bereits

Leseprobe zu "Zerrissen - vom Kummer zerfressen"

Vorwort Nicht alles, was im Leben geschieht, hat einen Sinn. Nicht alles, was wir machen, muss etwas Großartiges werden. Doch sind es manchmal nur die kleinen Dinge, die wirklich zählen. Die Hand, die

bottom of page