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Leseprobe zu "Henry"

Prolog

*

Ich sehe sie an und denke, wie vollkommen mein Leben endlich ist. Sie ist so wunderschön und bezaubernd, dass es mir immer wieder den Atem raubt.

Liebevoll hält sie im Schlaf eine Hand auf ihren Bauch. So langsam erkennt man es und wir sind beide überaus glücklich darüber. Denn sehr lange war es aussichtslos. Eigentlich hätte sie niemals Kinder bekommen können, doch das Schicksal meinte es gut mit uns. Sie hat es verdient. Nur dank ihrer Selbstlosigkeit bin ich noch hier. Niemand sonst hätte all das schaffen können, was meine wundervolle Frau hinbekommen hatte. Meine Königin, meine Liebe. Dabei sah es sehr lange wirklich düster aus. Sie war bereits verloren, gestorben und verschwunden. Mein Herz war gebrochen, meine Seele leer. Nur durch die Liebe und Herzlichkeit meiner Tochter und ihres Sohnes, Robert, konnte ich die schlimmste Zeit meines Lebens überstehen. Und doch konnte ihr Lachen nicht das Loch in meinem Herzen flicken.

Nur sie war mächtig genug, mich zu reparieren.

Nur sie konnte in mein Innerstes vordringen. Nur ihre Liebe und Stärke konnte mein Land retten. Ihre Geschichte haben wir bereits niedergeschrieben. Nun, so meinte meine traumhafte Frau, wäre es an der Zeit, auch meine für die Ewigkeit festzuhalten.

Denn, so scherzt sie immer wieder, bin ich alt. So alt, dass ich mehr zu erzählen hätte, als irgendjemand anderes. Natürlich liegt sie damit nicht falsch. Doch an all das konnte ich mich alleine nicht erinnern. Also suchte ich Heath auf.

Ein freundlicher alter Schamane, der auch schon meiner Königin half, ihren Weg zu finden. Aber es hat sich manches anders abgespielt, als ich es meiner Königin zunächst erzählte. Bevor ich allerdings Beginne, sollte ich mich vielleicht vorstellen.


Mein Name ist Henry Featherstorm, König von Jalia. Ich kam am 20. April 1564 zur Welt. Herzlich willkommen auf meiner Reise in die Vergangenheit. 1. Jalia


Eine Zeit lang fiel es mir schwer, mich zu erinnern, wie wundervoll dieses Land eigentlich ist. Mein Bruder, Hektor, hatte alles zunichtegemacht, was unsere Vorfahren aufbauten. Wirklich alles. Es brach mir das Herz, als ich Bilder seiner Zerstörungsphase zu sehen bekam. Dabei war Jalia der bezauberndste Ort, den man sich vorstellen kann.

Mein Königreich war einst umgeben von Liebe und Magie. Und dadurch erstrahlte es in alle möglichen Farben. Manch eine hab ich auf all meinen Reisen nie auf der Erde entdeckt. Ebenso war es mit den Blumen und Pflanzen. Als ich noch sehr jung war, bin ich oft mit meiner Mutter und Geschwister durch die Wälder und Wiesen geritten. Wir haben einfach die Zeit vergessen und uns der Natur hingegeben - was sich sicherlich kitschig anhört, aber dies waren die schönsten Erinnerungen. An solchen Tagen sind wir einfach in irgendeine Richtung geritten, bepackt mit einem Korb voller Leckereien. Irgendwann blieben wir stehen und ließen uns dort nieder. Manchmal waren wir an einem Fluss oder See angelangt. Dann setzten wir uns an den Rand und hielten unsere Füße ins Wasser. Aber wir waren jung und natürlich war das Wasser sehr verlockend. Also schubsten wir uns gegenseitig hinein und bespritzten uns mit dem lauwarmen Nass. Fische kitzelten dabei unsere Beine und wir hatten einfach nur unglaublichen Spaß.

Aber all das gehört der Vergangenheit an.

Denn nachdem meine Eltern starben und Hektor die Macht an sich gerissen hatte, veränderte sich alles. Plötzlich war das Wasser nur noch Matsch, die Fische gingen ein. Keine Blume konnte mehr wachsen, kein Leben mehr entstehen. Es glich einer Wüste. Hektor verbat die Magie. Nur noch ausgewählte Hexen und Zauberer durften sie noch anwenden. Aber nur, wenn Hektor es ihnen erlaubte. Das Schloss war früher so voller Leben, dass man schon von weitem das Lachen hörte. Kichernde Kinder spielten fangen und versteckten sich. Angestellte hatten stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Die Wachen waren konzentriert, aber nicht versteift. Sie spielten auch mal mit, wenn gerade niemand in der Nähe war. Ich kannte jeden Namen und wusste, dass sie stolz darauf waren. Meine Geschwister ignorierten sie, aber ich nicht. Ich brachte ihnen auch oft etwas von meinen Reisen mit. Oder von meinen Abenteuern als Kind in Jalia. Eine Wache sammelte zum Beispiel außergewöhnliche Steine, und immer, wenn ich einen fand, nahm ich ihn mit. Sie waren meine Freunde. Meine Mutter war genau wie ich. Auch sie sah in ihnen mehr als ›nur‹ einen Angestellten. Mein Leben war, bis ich 16 Jahre alt wurde, wie ein Traum. Obwohl ich sehr behütet aufwuchs, hatte ich doch sehr viele Freiheiten. Damals glaubte ich, niemand könnte uns jemals trennen oder schaden. Mit meinen Geschwistern, Flavia und Antonius, war ich unbesiegbar. Doch all das nahm eines Tages ein Ende.

Denn schon früh spann Hektor seine Fäden. 2. 16. Geburtstag


Dieser Tag ist etwas ganz Besonderes. Jeder im Land fiebert dem entgegen. Es ist der Tag der Prüfung. Sobald jemand bei uns 16 Jahre alt wird, gibt es eine 24-stündige Prüfungszeit. Niemand kann dabei durchfallen. Aber es wird herausgefunden, was in einem schlummert und welchen Ort man als Erstes aufsuchen sollte - falls man dazu fähig ist. Einen Tag vor meinem Geburtstag wollte ich noch einmal für mich sein. Meine Welt noch einmal erkunden. Ich holte mein Pferd, Pipe, aus dem Stahl und ritt einfach los. Mir ging zu viel durch den Kopf:

Wo würde man mich hinschicken? Werde ich meinen Schützling finden? Kann ich ihm helfen oder scheitere ich? Gewiss war ich nicht der Erste, der sich all dies fragte. Doch lastete auf mir ein gewisser Druck. Als Prinz war es meine Pflicht, meine Missionen vorbildlich zu erfüllen. Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen. Meine Geschwister wurden stets mit viel Getöse zurückempfangen und wenn jemand scheiterte, war es oft sehr bitter. Während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, entdecke ich abseits meines Weges eine Gestalt. Ich konnte nicht erkennen, wer es war. Aber es sah fast so aus, als wäre derjenige gestürzt oder verletzt.

»Hallo«, sprach ich, als ich näherkam.

»Bitte, helft mir«, entgegnete eine weiche, liebliche Frauenstimme. Ich sprang vom Pferd und eilte zu ihr.

»Was ist geschehen?« Die junge Frau wirkte etwas verstört und blass, aber sehr liebreizend. Sie saß auf einem Felsen und hielt ihr Bein umklammert. Ihr Kleid war feucht und schmutzig. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet, wahrscheinlich war sie wirklich schon sehr lange hier. Zulange, nahm ich an. Ihre Haare hatte sie unter einem Tuch versteckt, aber das half nicht wirklich vor dem Regen. »Darf ich?«, fragte ich vorsichtig nach und kniete mich nieder. Langsam nahm sie ihre Hand weg und entdeckte eine tiefe Schnittwunde an der Wade.

»Ich bin mir nicht sicher, was geschah. Mein Pferd warf ich mich ab und ich schnitt mir mein Bein an einem scharfen Stein. Ich muss wohl ohnmächtig geworden sein, denn als ich erwachte, war mein Pferd verschwunden. Ich rappelte mich auf und setzte mich hierhin.« Ich ging zu meiner Satteltasche, holte etwas zum Verbinden daraus und reichte der Frau eine Trinkflasche.

»Wie ist dein Name?«, wollte ich nun erfahren.

»Ich weiß es nicht«, sprach sie verzweifelt und blickte mir in die Augen. Fast hätten mich ihre warmen, großen braunen Augen umgehauen. Ich schaute sie etwas genauer an. Ihr Gesicht war schmutzig, aber sehr schön. Sie hatte volle Lippen. Nachdem ich ihr Bein versorgt hatte, stand ich auf, nahm vorsichtig das Tuch ab, und sah mir ihren Kopf an.

Tatsächlich konnte ich am Hinterkopf Blut entdecken. Das Kopftuch war ruiniert, sowohl von der Feuchtigkeit als auch vom Blut. Der Stoff war sehr dunkel, daher erkannte ich es beim ersten Blick auch nicht. Ihre Haare waren verklebt, aber ich konnte erkennen, dass sie fast schwarz sein mussten.

»Ich bin Henry, ich bringe dich jetzt ins Schloss. Dort wird man sich um dich kümmern und wir finden heraus, wer du bist«, versprach ich.

»Schloss?«

»Ja, nicht weit von hier.« Ich deutete in die Richtung. Eigentlich war es von jeder Seite aus zu erkennen. Die Wunde an ihrem Kopf konnte ich nicht richtig behandeln, aber ich konnte die Blutung stoppen, indem ich einen Druckverband anlegte. Einer meiner Lehrer hatte es mir einst beigebracht.

»Kannst du aufstehen?« Sie nickte und ich half ihr dabei. Mit einer solchen Kopfverletzung sollte man natürlich nicht reiten, aber uns blieb nichts anderes übrig. Ich wollte nicht riskieren, sie alleine zulassen. Im Nachhinein weiß ich, wie riskant und leichtsinnig ich damals war. Womöglich stand ich selbst unter Schock und hab einfach intuitiv gehandelt. Irgendwie schaffte ich es, sie auf mein Pferd zu bekommen.

»Pipe, bitte reite vorsichtig und bedacht«, flüsterte ich ihm zu. Ich nahm eine Abkürzung und war nach einer halben Stunde am Hof. Sofort kam eine Wache zu mir und ich schilderte, was geschah. Schnell war das Mädchen auf der Krankenstation. Man versprach mir, mich zu informieren. Aber daraus wurde leider nichts. Denn als ich das nächste Mal nachfragte, meinte der Arzt nur, ich solle mit dem König sprechen. Ich fand das sehr merkwürdig. Den ganzen restlichen Tag hab ich mich im Schloss aufgehalten. Das Mädchen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwas aber gefiel mir an ihr nicht. Was, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie hatte zwar wunderschöne Augen und eine liebreizende Figur, aber etwas nagte an mir. Ich hatte das Gefühl, als wäre sie nicht zufällig dort gewesen. 3. Prüfung


Am 20. April 1580 um ein Uhr nachts, ging die Tür von meinem Gemach auf. Natürlich war ich bereits angekleidet und hatte mich kurz vorher noch einmal frisch gemacht. Die Königin persönlich kam, um mich zu holen.

»Liebster Henry«, sprach sie leise und sanft. Sie war wunderschön. Ihr Haar trug sie in einem komplizierten Zopf um ihren Kopf, ihr Gewand war federleicht und doch sehr anmutig. Fast schien es, als würde sie schweben. Ich neigte meinen Kopf, um ihr meinen Respekt zu zeigen, und dann nahm sie mich in den Arm. »Nun bist auch du schon 16 Jahre alt. Mein Henry!«

»Nicht weinen, Mutter«, wisperte ich und wischte eine Träne von ihrer Wange weg.

»Lass dich ansehen!« Sie ging einen Schritt zurück. »Fühlst du dich gut, mein Sohn?«

»Sehr, danke.« Sie lächelte und wirkte zufrieden.

»Du siehst auch gut aus. Jetzt müssen wir uns aber beeilen«, lächelte sie. Ich blickte noch einmal an mir herunter und war mir sicher, die richtige Kleidung angezogen zu haben. Eine Leinenhose, ein weißes Hemd. Mehr durfte ich auch gar nicht bei mir haben. Meine Schuhe waren neu und noch ungetragen. Mein Bruder, Antonius, brachte sie mir eine Woche zuvor mit. Er kam erst zurück und schon müssen wir uns bald wieder trennen. Dieser Gedanke war sehr traurig für mich. Obwohl ich nur sechs Jahre Zeit mit ihm hatte, war Toni mein Lieblingsbruder. Früher haben wir wirklich jede freie Minute zusammen verbracht.

Dabei war er 100 Jahre älter als ich. Aber das Alter ist bei uns nicht sonderlich von Bedeutung. Warum Antonius schon so früh wieder zurückkehrte, wusste ich nicht. Aber irgendwas muss geschehen sein. Als ich ihn in den letzten Tagen auf den Fluren des Schlosses sah, konnte ich seine Traurigkeit spüren. Aber ich wurde sehr eingespannt und musste in einer Woche mehr lernen, als in einem Monat. Auch Toni musste seinen Pflichten nachgehen. Er hatte niemanden mitgebracht, so viel war sicher. Das würde bedeuten, der König wählt eine Partie für ihn aus. Dieser Gedanke nervte und schockierte am meisten. Wenn wir unsere große Liebe nicht finden - und dadurch auch kein Nachkommen bekommen - wird etwas arrangiert. Danach spielen wir für einige Jahre Familie, bevor wir erneut in die andere Welt geschickt werden. Dies wiederholt sich sooft, bis wir endlich jemanden finden, der unser Herz erobert.

Auf dem Weg zu meiner Prüfung musste ich an ein Gespräch mit meiner Mutter, vor einigen Wochen, denken.

»Liebling, du brauchst keine Bedenken haben. Deine Zeit wird kommen. Du wirst deine große Liebe finden.«

»Was passiert, wenn ich sie nicht finde? Sucht Vater dann auch jemanden für mich?« Wir waren an der frischen Luft und genossen die ersten Frühlingsboten. Der April war noch sehr jung, aber meine Gedanken kreisten sich schon um die Prüfung. Wir saßen auf einer Wiese, um uns herum ein Meer aus Blumen.

»Ja, das wird er sicherlich.«

»Kann ich es beeinflussen?«

»Leider nein, Henry. Aber mach dir keine Gedanken. Du findest deine große Liebe, aber erst sehr viel später. Sie wird einmal dein Herz und deine Seele berühren.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Ich hatte eine Vision«, sprach sie leise. Wenn meine Mutter eine Vision hatte, dann würde sie auch in Erfüllung gehen. Sie lag nie falsch. »Konzerntrier du dich auf deinen Schützling. Das wird nun deine Priorität.«

»Wie finde ich diese Person?«

»Du spürst es intuitiv. Du wirst diesen Menschen sehen und es wissen. Sobald dieser Schritt getan ist, wirst du eine besondere Verbindung aufbauen. Das alles gehört zu unserer Persönlichkeit. Sobald diese Verbindung steht, wirst du empfänglich sein für dessen Gefühle und Emotionen.« Das ging mir nicht aus dem Kopf. Wie lange müsste ich denn warten?

»Wir sind da«, unterbrach sie meine Gedanken. »Bist du soweit?« Ich atmete tief ein und aus. Meine Mutter schaute auf eine Taschenuhr, die ihr einst jemand aus der anderen Welt mitbrachte. »1Uhr 13.« Das Tuch in ihrer Hand bemerkte ich erst, als sie bereits begann meine Augen zu verbinden. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und ich hörte sie eine Tür öffnen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Mein Herz klopfte wie wild, ich nickte und ging hinein.


Die Dunkelheit überkam mich nun noch mehr. Zusammen mit der Stille, die nur durch das Schließen der Tür unterbrochen wurde, hüllte es mich ein.

»Willkommen Henry. Es ist nun 1 Uhr 16. Du bist pünktlich«, sprach jemand. Vom Klang her konnte es nur der König, mein Vater, gewesen sein. Mehr passierte nicht. Die Dunkelheit und Stille überfluteten mich. Doch blieb ich stehen. Langsam beruhigte sich auch meine Atmung und ich konzentrierte mich auf meine Umgebung. Alles, was ich nun registrierte war ein Knistern. Ich nahm an, es kam von einer Kerze. Noch immer blieb ich ruhig stehen. Mir konnte nichts passieren, das war mir bewusst. Trotzdem war es überaus befremdlich und bedrückend. Noch nie verharrte ich so lange auf einer Stelle, doch nach einer Weile drang eine Stimme zu mir durch.

›Morgen ist meine Prüfung. Was wird mich wohl erwarten?‹, hörte ich und erschrak. Das waren meine Gedanken. ›Was ist nur mit Toni los? Warum ist er so niedergeschlagen? Irgendwas muss vorgefallen sein. Aber was? Hoffentlich werde ich noch Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen.‹

Alles, was mir in den letzten 24 Stunden durch den Kopf ging, hörte ich nun. Klar und deutlich.

›Sie ist wirklich sehr hübsch. Was ist nur geschehen? Wer ist sie, wo kommt sie her? Ich dachte, ich kenne alle Bewohner Jalias. Aber sie ist mir fremd. Ich würde sie gerne sehen, wenn es ihr besser geht. Unter all diesem Schmutz steckt sicherlich eine Schönheit. Aber irgendwas ist seltsam an ihr. Wie sie spricht. Irgendwie passt ihre Geschichte nicht ganz so zusammen. Ich kann so schlecht erkennen, ob sie die Wahrheit spricht. Sonst fällt es mir doch leicht. Aber bei ihr stimmt etwas nicht. Was ist es nur?‹

Das stimmte. Ich kann wirklich erkennen, ob jemand die Wahrheit spricht. Aber bei dieser Frau war alles trüb. Als ob sie irgendwas mit einem Zauber verschleiern wollte.

›Warum weigern sie mir eine Auskunft zu geben? Hoffentlich ist sie nicht schwer verletzt, oder nicht schlimmer als ich annehme. Ihre Augen …‹ Oh, ich erinnere mich, was danach geschah und hörte es dann auch. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Aber ich nahm an, dass - wer auch immer zuhörte – schon schlimmere Gedankengänge ertragen musste.

›Ich kann ich nicht schlafen. Nur noch drei Stunden, dann muss ich zur Prüfung. Wer klopft denn jetzt? Ah, Wein. Sehr gut mitgedacht. Mmh, schmeckt vorzüglich. Hilft aber nicht, mich ruhiger zu machen.‹

Ja, der Wein war wirklich köstlich. Vielleicht lag es an der Situation, aber ich habe nie wieder einen solch schmackhaften Tropfen getrunken. Die 24 Stunden meiner Gedanken waren vorbei und ich atmete erleichtert aus. Wie lange dies dauerte, weiß ich nicht. Aber damals glaubte ich, die Zeit wäre schon viel fortgeschrittener. War sie aber nicht. Erneute Stille, die aber durch den Klang von Schritten unterbrochen wurde. Ich konzentrierte mich. Es war ein kräftiger Gang.

»Mein König«, sprach ich nun. Ich hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen.

»Mein Sohn.« Er war nun hinter mir, band meine Hände zusammen und berührte mich kurz an der Schulter. Ein Schauer lief mir über den Rücken, aber ich ließ mir nichts anmerken. Noch immer waren meine Augen verbunden. Er ging um mich herum und stand nun vor mir. Wir konnten erneut hören, was ich dachte. Damals fragte ich mich, wie das möglich war. Aber später, als ich selbst diesen Prüfungen beiwohnte, registrierte ich etwas. Es war wie ein Rohr, was den Ton zu uns brachte.

›Sehr verwirrend. Warum ist es wichtig, was ich denke? Ist es relevant für die kommenden Prüfungen oder für meine Zeit danach? Nun gut, hätte schlimmer kommen können. Wenn ich so die Zeit rum bekomme, ist es ja nicht tragisch. Mir ist noch nie bewusst geworden, welche Präsenz der König hat. Ich kann weder sehen noch tasten und doch kann ich es deutlich erkennen. Ich wünschte, ich könnte einen Raum nur mit meiner bloßen Anwesenheit einnehmen. Aber dafür ist er der König und ich bin nur ein Prinz. Was hab ich schon groß geleistet? Ich habe immer das Gefühl, der König ist ganz anders, wenn wir unter uns sind. Verzeiht, Eure Hoheit. Das war respektlos. Ich wollte damit andeuten, Ihr seid nicht nur ein großartiger König, sondern auch ein liebevoller Vater. Dies ist eine gute Eigenschaft. Ihr könnt Eure Krone ablegen und einfach Vater sein‹, versuchte ich, mich raus zu reden.


*


War schon etwas anstrengend mit dem Gedankenlesen. Nun weiß ich wieder, wie sich meine wundervolle Frau gefühlt haben muss. Ständig konnte ich hören, was sie dachte. Noch immer höre ich es. Wenn sie träumt, dann begegnet sie manchmal jemanden aus der Vergangenheit. Seit sie wieder bei mir ist und unser Band noch stärker wurde, ist auch ihre Gabe gewachsen. Sie braucht eine Person nicht einmal mehr persönlich kennen. Manchmal reicht es schon, einfach ein Buch eines verstorbenen Autors zu lesen. So wie in diesem aktuellen Traum. Ich freue mich für sie und finde es toll, dass sie mich dran teil lässt. Denn sie könnte mich auch aussperren. Aber das macht sie äußerst selten. Wenn es mal wieder vorkommt, weiß ich, dass sie irgendwas ausheckt. Oft mit meiner Tochter zusammen oder mit ihrer Mutter. Sie ist schon was besonderes.


*


Doch in diesem Raum war es etwas anderes. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging mein Vater erneut um mich herum, nahm die Augenbinde ab und war verschwunden, bevor sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnten. Noch immer drangen meine Gedanken zu mir durch, und noch immer wusste ich nicht wirklich damit umzugehen. Ich blickte mich in dem Saal um. Er war größer, als ich annahm. Die Decke war aus Stein, mit Stuck verziert. Ein Künstler muss, in liebevoller Kleinarbeit, diese Bilder gestaltetet haben.

›Diese Blüten und Farben. Ich bin schier überwältigt von dieser Kunstfertigkeit. Wer das wohl gemalt hat? Wie präzise und sorgfältig. Er - oder sie - muss es am Boden kreiert haben und dann hat ein Handwerksmann dies an die Decke angebracht. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Ich würde diesen Künstler zu gerne einmal treffen. Was das wohl für eine Pflanze sein mag? Wirklich beeindruckende Pinselführung. Ich würde gerne bei ihm lernen.‹ Ich richtete meinen Blick auf den Boden. Er war aus Marmor, beige und in der Mitte war das Symbol des Königs abgebildet. Sehr eindrucksvoll. ›Was erblicken meine Augen?‹, fragte ich mich, als ich die Wände begutachtete. Auf drei der vier Wänden war etwas gemalt, die vierte war aus Spiegelglas. ›Drei Bilder, drei verschiedene Ereignisse. Könnte es sein? Sehe ich hier in zweierlei Zukunftsversionen?‹ Eins zeigte eine wundervolle Welt. Jalia. Wie ich es kannte. Das andere war eine zerstörte Realität. Ich spürte förmlich den Tod. Alles war vernichtet. Alles, was meine Vorfahren aufbauten, glich dem Erdboden. Tränen stiegen mir hoch und ich ließ sie einfach laufen. Jalia so zu sehen brach mir das Herz. Damals ahnte ich nur, was dieses Bild für eine Botschaft sendete.

Heute aber weiß ich, wie schmerzlich es wirklich war. Als mein Bruder König war, sah es genauso aus. Dies war seine Zukunft. Nichts gedieh mehr. Es war nichts mehr übrig von der Magie dieser Welt. Es deprimierte mich ungemein. Ich wischte die Tränen weg und blickte auf die nächste Wand. Sofort musste ich lächeln. Meine Lebensfreude kehrte zurück und ich fühlte mich nicht mehr erdrückt. Es war wie im Paradies. Die Wiesen erblühten, die Häuser strahlten. Der Himmel schien blau. Natürlich war es nur ein Trugbild. Denn auch hier gab es Konflikte. Aber wir versuchten sie zu bereinigen. Ich ritt sehr oft durch das Land und sprach mit dem Volk. Sobald uns die Nachricht eines Streites erreichte, war ich vor Ort und versuchte zu schlichten. Es war interessant mit all diesen Leuten zu reden und ihnen etwas mitzubringen. Ich schlenderte zum letzten Gemälde.

›Mir düngt, als würde ich die Lieblingspflanzen von uns sehen. Meine liebe Mutter liebt Kirschblüten. Mein Lehrer hat mir einst deren Bedeutung beigebracht. So steht die Kirsche für Schönheit und Paradies. Das Veilchen drückt Bescheidenheit und Frühling aus und passt zu Flavia. Antonius mag die Anemone am liebsten. Sie steht, was ich überaus passend finde, für Vergänglichkeit. Hektor hat keinen Sinn für die Schönheit von Blumen oder Pflanzen. Dieser Baum hier könnte also seiner sein ... Ist das eine Eiche? Stolz, Ruhm, Kraft. Würde passen. Julius hatte sich einst für die Lilie entschieden. Er ist immer so hoffnungsvoll.

Die Orchidee steht eindeutig für Hubertus, er bewundert Hektor und würde ihn überall hin folgen - um an Macht und Reichtum zu gelangen. Und ich? Ich mag rote Nelken sehr gerne. Sie sollen für die Liebe stehen.‹

Ging es mir durch den Kopf. Warum ich mich ausgerechnet an diese Details erinnerte, wusste ich nicht. Es war seltsam, wie gut diese Pflanzen doch zu uns passten. Eine vergaß ich zu erwähnen. Die Chrysantheme. Mein Vater wählte einst diese Blume für sich. Wir alle werden irgendwann zu einer angezogen, die dann unser Symbol darstellen soll. Wobei ich meine ganz vergessen hatte. Zuviel war vorgefallen und irgendwann wurde die Nelke zu einem traurigen Bestandteil meines Lebens. Bei Beerdigungen liegen unsere Blumen auf dem Grab. Jeder von uns lässt seine nieder und gibt etwas von sich mit ins Innere. So viele meiner Geschwister musste ich begraben - manchmal wurde ich deshalb kurz von meiner Mission zurückbefördert. Es war meine Pflicht daran teilzunehmen. Die Blume, die der König wählte, stand für Vollkommenheit und Unsterblichkeit. Was im Prinzip ein Witz war, denn ich bin nur König, weil mein Vater fiel. Die Chrysantheme gilt als Nationalblume der Japaner und heißt ›Kiku‹, was übersetzt ›Abendsonne‹ bedeutet. Sie steht zudem für Frische und Fröhlichkeit. Natürlich wusste ich vieles von dem damals nicht. Ich ahnte nicht, welch schlimmes Ende meine Familie nehmen musste. Wer dahinter steckte und welche Ziele verfolgt wurden … Nachdem ich die Gemälde betrachtet hatte, meine Gedanken verstummten und alles wieder ruhig wurde, geschah erst einmal nichts. Ich zog mich in eine Ecke zurück und setzte mich auf den Boden. Meine Glieder schmerzten etwas vom langen stehen und diese Pause gönnte ich mir. Auch wenn ich seit Stunden, weder etwas zu Trinken noch zu Essen erhielt. So langsam bekam ich meinen Hunger zu spüren, aber ich konnte jetzt nicht aufgeben. Der Tag war noch lange nicht vorbei. Was würde wohl als Nächstes geschehen? Plötzlich wehte ein starker Wind, so stark das die Kerzen erloschen. Nun umgab mich erneut Dunkelheit. Ich vernahm ein Geräusch. Angespannt hielt ich den Atem an. Blieb aber weiterhin sitzen. Mir konnte eigentlich nichts geschehen. Sie würden nicht riskieren, dass ich von etwas gebissen und gekratzt werde, was giftig und tödlich war. Daher entspannte ich mich einfach und verfolgte das Trappen von Füßen. Es müssen Tiere sein, vermutete ich. Zwei waren es mindestens. Nun waren sie in meiner Nähe. Sie schnupperten. Obwohl ich nichts sehen konnte, waren meine Sinne geschärft. Plötzlich spürte ich, wie etwas mich ableckte. Ich musste lachen, weil es echt kitzelte. »Keine Sorge«, flüsterte ich, »ich tue euch nichts. Es ist schön, etwas Gesellschaft zu haben.« Ich streichelte zuerst das eine, was meine Hand abschleckte, dann das andere. »Was seid ihr nur für Wesen? Mmh, du fühlst dich vom Kopf her an wie ein Hund und hechelst auch so, aber dein Rumpf, deine Pfoten und Schwanz sind wie von einer Katze. Wie wäre es, wenn ich dich einfach Willi nenne? Bist du damit einverstanden?« Es bellte freudig und ich widmete mich dem anderen zu. »Und was ist mit dir? Autsch, ja, du erinnerst mich an einen Igel. Aber dein Köpfchen ist so weich wie das von einem Schaf. Ich taufe dich auf den Namen … Sticky.« Es leckte meine Hand ab und es schien, als hätte ich nun zwei neue Freunde. Nach und nach wurden die Kerzen entzündet und erhellten den Raum erneut. Magie ist schon etwas Tolles, sie erleichtert das Leben enorm. Nun konnte ich Willi und Sticky ganz genau betrachten. »Ihr seht echt interessant aus«, lachte ich. In diesem Moment vergaß ich vollkommen, dass ich hier unter Beobachtung stand. Diese Tiere waren so einzigartig, dass ich mich nicht sattsehen konnte. Sie faszinierten mich enorm. Willi sprang auf einmal auf und rannte auf die andere Seite des Raums. Zuerst glaubte ich, er hätte doch Angst vor mir, doch dann bemerkte ich einen Teller mit Brot und Wurst und einen Krug mit Wasser. Zusammen mit Sticky setzte ich mich zu Willi. Ich schob das Brot und die Wurst vom Teller, der eine kleine Einbuchtung hatte, goss etwas Wasser hinein. Nun konnten sie trinken und das taten sie auch gemeinsam. Ich brach etwas vom Brot ab und biss im Wechsel dort und in die Wurst hinein. Die andere Hälfte teilte ich noch einmal in zwei und legte sie vor den Tieren hin, wobei Sticky etwas mehr vom Brot abbekam, da Willi noch ein Stück meiner Wurst erhielt. Ich wusste, dass Schafe keine Fleischfresser waren. Aber ein Hund fraß fast alles. Nun aßen wir alle drei friedlich und stumm, während ich überlegte, was wohl noch passieren würde und ob dies auch zur Prüfung gehörte. Oder hatte ich tatsächlich einfach eine Pause bekommen, ohne beurteilt zu werden. Sollte dies aber doch gezählt werden, war ich gespannt, ob meine Intuition belohnt oder bestraft werden würde. Wobei ich ja nicht durchfallen konnte, diese Prüfung diente nur einer Orientierung. Natürlich würde ich so oder so auf die Erde gehen, aber wohin und wer meine ›Zielperson‹ werden sollte, hing von dem Ergebnis ab. Sowohl meine Tiere als auch ich, waren gesättigt und zufrieden und wir entspannten noch etwas mehr. Körperlich war dieser Tag zwar nicht so herausfordernd, abgesehen von dem langen Stehen zu Beginn, doch gedanklich forderte er mich schon heraus. Ein kleiner Spalt öffnete sich und meine Freunde liefen darauf zu. Wahrscheinlich wurden sie gerufen und mussten mich nun verlassen. Doch sie blickten ein letztes Mal zu mir und ich winkte ihnen, mit dem Versprechen sie wieder zu sehen, nach. Nun war ich wieder alleine. Auf einmal vernahm ich eine Stimme, nicht meine eigene, sondern eine vollkommen Fremde. Diese stellte mir verschiedene Fragen.

Fragen über Jalia und ihre Bewohner. Fragen über die Erde und ihre Menschen. Ich versuchte, so genau wie möglich zu antworten, auch wenn es manchmal nicht einfach war. Viele Fragen wurden über die Geschichte Englands gestellt. Gegenwärtige Königin war Elizabeth I, Halbschwester von Queen Mary, die davor regierte. Beides Töchter von Henry VIII. Auch fragen über Julius Cäsar und Spartakus musste ich beantworten. Während ich sprach, lief ich etwas umher. So konnte ich am besten nachdenken. Aber auch dies war irgendwann vorbei und Stille kehrte wieder ein. Erneut wurde das Licht gelöscht und ich hörte Schritte. Ruhig blieb ich stehen und versuchte herauszufinden, wem sie gehörten.

»Hektor!«, stieß ich hervor. Was sollte das bedeuten?

»Henry«, sagte dieser abschätzend. Er spuckte meinen Namen förmlich heraus. Nun stand er genau bei mir, aber noch immer war es zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können.

»Kämpft!«, wurde uns von der Stimme befohlen. Kämpfen? Ich sollte mit meinem Bruder kämpfen? Aber … Mir blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn schon griff Hektor mich an. Er war schon immer stärker als ich. Ich denke mal, dass er lange auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte. Endlich konnte er sich mit mir messen, ohne ärger zu bekommen. Ich wusste, dass Hektor bei Nacht gut sehen konnte. Das war eine seiner Fähigkeiten. Meine hatte ich erst kürzlich richtig entdeckt. Doch steckte noch viel mehr in meinem Bruder. Plötzlich schleuderte er mich gegen die Wand. Ich krachte dagegen und prallte schmerzvoll auf dem harten Boden auf. Sofort spürte ich das Blut an meiner Stirn und wusste, dass ich noch andere Prellungen haben würde. Langsam versuchte ich, mich aufzurappeln, aber da kam Hektor mir in die Quere. Er hob mich hoch und schleuderte mich erneut von sich. Dieses Mal krachte ich gegen die Spiegelwand und schnitt mir mit den Scherben die Haut auf. Entgegen vieler Vermutungen heilen wir zwar schneller als Menschen, aber nicht sofort. Auch wir brauchen unsere Regenerationszeit. Wir Jalianer haben nur das Glück, nicht an unseren Verletzungen sterben zu müssen. Es sei denn, man würde uns unser Herz raus schneiden oder uns enthaupten. Letzteres war die barmherzigere Variante der Hinrichtung. Wobei es schon eine ganze Weile keine Hinrichtungen mehr gab. Die letzte wurde durchgeführt, als ein Schamane mit einer Hexe zusammen kam und sich diese vereinten und ein Kind zeugten. Sie versteckten sich, aber erfolglos. Noch bevor das Kind auf die Welt kam, wurden sie gefangen genommen. Der König konnte sich da nicht einmischen. Dies war eine Sache zwischen den Völkern. Jeder kannte das Gesetz. Es war verboten. Niemand wusste, was dabei herauskommen wird, sollte tatsächlich ein Nachkomme entstanden sein. Die Gefahr war zu groß. Die Hexen mussten ein Zeichen setzen und die Schamanen auch. Sie lebten nur ein Scheinabkommen. Sobald jemand ein Gesetz bricht, könnte es zum Krieg kommen. Dieses Liebespaar brachte sich gegenseitig in Gefahr, somit mussten sie handeln. Die Hexe konnte nicht entkommen und wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch diese Art der Hinrichtung gilt für immer.

Allerdings nur, wenn die Person nur noch Staub und Asche ist. Wenn man nicht gründlich genug ist, kann sich ein Jalianer wieder regenerieren. Sie glaubten nicht an die große Liebe. So etwas gab es noch nie. Die Schamanen erkannten ihren Fehler erst, als auch der Mann starb. Dieses Abkommen wurde auch bis zum Jahr 1994 nicht gebrochen … Doch in diesem Jahr wurde ein außergewöhnliches Mädchen geboren …

Ich versuchte, mich aufzurappeln, die Scherben knirschten unter mir, doch da war Hektor schon da.

»Wenn du glaubst, du kannst dem hier entkommen …«, presste er zwischen gefletschten Zähnen aus. »Ich kann dich vielleicht nicht töten, aber verletzen und deinen Ruf zerstören«, sprach er weiter. Er redete so leise, dass nur ich es verstehen konnte. Er trat mir in den Bauch und ich musste husten. Alles schrie in mir auf. Alles brannte und schmerzte.

»Hör auf«, stieß ich verzweifelt aus. Doch er lachte nur. Warum ließ unser Vater das zu? Was sollte dieser Test? Dann begriff ich, was zu tun war. Ich wollte meine Fähigkeiten eigentlich nicht noch einmal gegen Hektor einsetzen. Doch ließ er mir keine Wahl. Zuerst raubte ich ihm die Sehkraft. Nun war er in derselben Ausgangssituation wie ich, na ja, fast.

»Du Dreckskerl!«, schrie er. Er stürzte sich erneut auf mich, blind wie er war. Doch rollte ich mich zur Seite und er landete inmitten der Scherben.

Er schrie auf und ich nahm ihm nun die Stimme. Auf einmal erstrahlten die Kerzen den Raum wieder und ich erblickte nun den angerichteten Schaden. Nicht alles vom Spiegel war zerbrochen und ich konnte mich betrachten. Meine Sachen waren zerschnitten und mit Blut besudelt. Es schien fast so, als würde ich aus jeder Pore bluten … Dann wandte ich mich Hektor zu. Er versuchte mich zu ertasten und probierte die ganze Zeit irgendwas zu sagen. Schließlich nahm ich ihm auch die restlichen Sinne und er konnte jetzt gar nichts mehr wahrnehmen. Weder riechen, noch hören, schmecken oder sehen. So ließ ich ihn einige Minuten, bis er wütend mit allem schmiss, was er in die Hände bekam. Aber natürlich traf er mich nie. Als Erstes gab ich ihm seinen Geruchssinn wieder. Der Duft von Blut lag in der Luft und er sollte es gefälligst riechen. Als er wieder hören konnte, versuchte ich, zu ihm durchzudringen. Doch war es nutzlos.

»Henry, würdest du deinem Bruder seine ganzen Sinne wiedergeben?«, sprach die Stimme, die nun zu dem König gehörte. Ich gehorchte und Hektor sprang sofort auf mich, in der Hand eine Glasscherbe.

»Wenn du glaubst, du wirst damit durchkommen ...«, drohte er mir.

Dabei hatte er doch angefangen und ich hab ihn auch nicht verletzt.

»Danke Hektor, du kannst nun gehen.« Eine Tür wurde geöffnet und wütend und voller Zorn blickte mich Hektor noch einmal an.

»Wir sind noch nicht fertig!«

Ich verstand das überhaupt nicht. Es war doch nur für meinen Test. Wie würde ich in einer Gefahrensituation reagieren? Jedenfalls vermutete ich das. Ich setzte mich hin und versuchte etwas zu ruhen. Ich fühlte mich, als sei ich gerade von einem hohen Baum in ein Nadelfeld gefallen. Aber natürlich zeigten die Nadeln mit ihren Spitzen nach oben und stachen in mein Fleisch, während ich auf sie landete. Kurz nachdem Hektor verschwunden war, ging erneut die Tür auf und Antonius kam hinein. Noch ein Kampf?

»Trink das«, befahl die Stimme, und ich entdeckte die zwei Becher in Antonius Hände. »Dieses Mal ohne Magie«, erklärte die Stimme und ich nahm den Becher und trank ihn. »Hey Toni«, begrüßte ich ihn. Er lächelte und erwiderte meinen Gruß, wenngleich etwas angespannter.

»Wir sollen also kämpfen, mmh? Das haben wir früher immer gemacht, bevor du weg musstest. Erinnerst du dich?«, versuchte ich, die Situation etwas zu lockern. Er nickte nur zur Antwort. Dann stürzte er sich auch schon auf mich. Er boxte in meinen Bauch, meine Nieren, meinen Magen. Dann gab er mir einen Kinnhaken. Warum nahmen sie das so verbissen? Es war doch nur eine Prüfung. Nichts auf Leben und Tod. Hektor war todernst und nun Toni? Irgendwas stimmte hier nicht. Plötzlich lag er auf mir und ich fühlte ein Messer an meiner Kehle. Wo hatte er das denn her? Waren Waffen nicht auch verboten?

»Toni«, krächzte ich. »Hör auf, ich … bekomme keine … Luft ...« Ich rang nach Atem, doch er drückte das Messer immer fester gegen meinen Kehlkopf. Es tat weh. Ein zweites Messer tauchte auf und er rammte es mir direkt in die Brust. Seine Augen waren kalt und voller Zorn. Es schien, als wäre er so wütend auf mich, dass er die Beherrschung verlor und mich umbringen wollte. Das Messer bohrte er nun immer weiter in mich hinein. Er zog es heraus und versuchte es noch einmal weiter Links. Er zielte auf mein Herz und rammte es mir mit voller Wucht hinein. Gleichzeitig verstärkte er den Druck gegen meine Kehle und schnitt mir mit einer Bewegung den Hals auf. Natürlich konnte es mich noch nicht töten, aber ich verlor die Macht über mich und glitt in eine Bewusstlosigkeit, die mir willkommen war.

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